Buchtipp: Gittersee

von Stephan Frank

Foto: Ingrid / Pixabay

Stephan Frank hat für unsere Leserinnen und Leser Charlotte Gneuß‘ Roman „Gittersee“ rezensiert.

Die 1992 im schwäbischen Ludwigsburg geborene Schriftstellerin hat im vergangenen Jahr mit „Gittersee“ ihren Debütroman vorgelegt, der es gleich in die Longlist für den Deutschen Buchpreis schaffte und mit dem Literaturpreis der Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde. Ihre Eltern hatten seinerzeit die DDR vor dem Mauerbau verlassen. Nach einer Ausbildung zur Buchbinderin studierte sie zunächst Soziale Arbeit, danach Literarisches Schreiben in Leipzig und schließlich Szenisches Schreiben in Berlin.

Die Handlung des Romans ist im Jahre 1976 in Dresden-Gittersee angesiedelt. Im Mittelpunkt steht die Erzählerin Karin Köhler, eine sechszehnjährige Schülerin. Sie lebt mit ihren Eltern, die sich im Laufe des Romans trennen, der zweijährigen Schwester, um die sie sich viel kümmert bzw. kümmern muss, da die Eltern im Schichtdienst arbeiten. Dann gibt es noch die Großmutter, die immer noch die positiven Seiten ihrer Zeit im Zweiten Weltkrieg als Flakhelferin bzw. Blitzmädel verkündet. Man ist um ein harmonisches Familienleben bemüht, erreicht dieses Ziel wegen gegensätzlicher Interessen jedoch nicht. Die Geschichte dreht sich nun darum, dass Karins Freund Paul, ein Bergarbeiter, der eigentlich lieber Kunst studieren möchte, sich erfolgreich in die BRD absetzen kann. Er hätte gerne die Flucht mit Karin angetreten, legt ihr gegenüber seine Pläne nicht gänzlich offen. So kommt es, wie es damals in der DDR kommen musste: Die Stasi kümmert sich intensiv um Karin. Auf perfide Weise erschleicht sich der zuständige Mitarbeiter namens Wickwalz ihr Vertrauen, in dem er ihr die Aufmerksamkeit schenkt, die sie weder in der Familie, noch in der Schule oder im Freundeskreis erfährt: „Damals glaubte ich, dass er mich mochte. Wickwalz sprach ja mit mir wie mit einer ganzen Person. Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“ Der Stasimann ist der einzige, der ihr Zuwendung schenkt und ihr Selbstwertgefühl steigert. Trotzdem vergisst Karin letztlich nicht, mit wem sie es zu tun hat, wie das überraschende Ende zeigt.

Dieser Roman reiht sich sicherlich positiv in die inzwischen fast endlose Reihe derjenigen Romane ein, die sich mit der DDR und dem Leben dort befassen, aber erst nach dem Mauerfall erschienen sind. In lockerer Sprache und ansprechenden Spannungsbögen wird das Leben in der DDR als ein Leben in Unsicherheit beschrieben, in dem niemand das erreicht, was er eigentlich erreichen will, da der allmächtige Staat Individualität und Freiheit nicht akzeptiert. Es handelt sich insgesamt also um eine sehr lesenswerte Coming-of-Age-Geschichte in den in jeder Hinsicht viel zu engen Grenzen der damaligen DDR.

Charlotte Gneuß: Gittersee

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2023

ISBN 978-3-10-397088-3

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*