Buchtipp: Tell

von Stephan Frank

Foto: Ingrid / Pixabay

Stephan Frank hat für unsere Leser Joachim B. Schmidts Roman Tell rezensiert.

Gleich zu Beginn ein Zitat aus der Literaturkritik zu diesem Werk: „Tell ist toll“, jedenfalls um ein Vielfaches toller als Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“, so meine Meinung. Die Geschichte ist uns Lesern noch mehr oder weniger aus dem Deutschunterricht bekannt und muss hier nicht erzählt werden. Und was macht den Roman so toll?

Der mit seiner Familie in Island lebende Schweizer Joachim B. Schmidt erzählt in Romanform Tells Geschichte neu, befreit von allem Pathos, allen Legenden und Sagen, die ohnehin nur Erfindungen und Wunschdenken sind. Dieser Tell befindet sich vielmehr auf der Schattenseite des Lebens, ist eine tragische Figur. Als Junge vom örtlichen Pfarrer sexuell missbraucht, sich schuldig fühlend am Tod seines Bruders, ist er von zwei Traumata geprägt. Er heiratet die schwangere Frau seines Bruders, kümmert sich um den Hof und die Familie, ist aber ein eigenbrötlerischer Mensch, der am liebsten allein in den Bergen auf die Jagd geht und ansonsten seine Ruhe haben will. Als Soldaten seinen Bauernhof heimsuchen, beginnt die Gewalt endgültig ihren Lauf zu nehmen, Tell wird zur tragischen Figur.

Wie gelingt Schmidt diese Entmythologisierung? Ganz einfach: Da niemand weiß, wie genau sich alles abgespielt hat, werden zwanzig Personen zu Erzählern des Romans, etwa Tells Frau, der Pfarrer, der Landvogt etc.. Sie alle berichten in jeweils kurzen Abschnitten, wie sie den Ablauf der Handlung erleben, was sie fühlen und denken. alles streng logisch nachvollziehbar und an der Wahrscheinlichkeit orientiert, befreit von jeglichem Pathos und jeglicher Mythologie. Collagenartig entwickelt sich die Handlung, wobei Tell selbst erst kurz vor dem Ende der Geschichte zu Wort kommt. Und auch in diesem Roman finden wir ein überraschendes Ende: Tells Tochter – inzwischen selbst Großmutter geworden – demontiert, teilweise ironisch, gleichsam vorsorglich den beginnenden Tell-Mythos. 

Dieser Roman ist spannender geschrieben als jeder gute Krimi und will einfach verschlungen werden. Ich habe nach der Lektüre von Schmidts Roman noch einmal mein altes Reclamheft aus der Schulzeit hervorgekramt und interessehalber Schillers Werk erneut gelesen. Eigentlich müsste ich sagen: Ich habe mich im Vergleich zu Schmidts „Tell“ eher durch das Heft hindurchgequält, habe für die wenigen Seiten wesentlich mehr Zeit gebraucht als für den viel umfangreicheren Roman. Hätte es doch damals schon Schmidts Roman gegeben, was hätte ich für einen Deutschunterricht erleben können!

Joachim B. Schmidt: Tell | ISBN 978-3-257-07200-6

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