Buchtipp: Die Kinder sind Könige

von Stephan Frank

Foto: Ingrid / Pixabay

Stephan Frank hat für unsere Leser Delpine de Vigans Roman ‘Die Kinder sind Könige’ rezensiert.

Die Autorin, 1966 in Frankreich geboren, ist inzwischen eine international bekannte und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftstellerin. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Paris und ist seit 2007, nämlich dem ersten großen Erfolg mit dem Roman „No & ich“, als freie Schriftstellerin tätig.

Der Roman „Die Kinder sind Könige“ besteht aus drei Teilen. Der erste beginnt im Jahr 2001 und wir erfahren, dass die 17-jährige Melanie Claux Fan von Reality-Shows nach Art von „Big Brother“ ist und sich nichts mehr wünscht, als ein Mal daran teilzunehmen, was ihr im Alter von 26 Jahren dann auch gelingt. Da sie aber dabei nur das wohlerzogene und unnahbare Mädchen abgibt, muss sie relativ schnell die Serie wieder verlassen. Nach dem Abbruch ihres Studiums arbeitet sie in einem Reisebüro.

Parallel zu ihrer Geschichte lernen wir Clara Roussel kennen, zwei Jahre jünger als Melanie Claux und ihr komplettes Gegenteil. Sie ist Tochter linksorientierter Eltern und arbeitet bei der Polizei, wo sie für ihre akribische und detailversessene Arbeit beinahe gefürchtet wird. Während Melanie zwischenzeitlich geheiratet hat und Hausfrau und Mutter zweier Kinder ist, der sechsjährigen Tochter Kimmy und des neunjährigen Sohnes Sammy, bleibt Clara ledig und ist Backoffice-Chefin einer Polizeieinheit.

Diese beiden Frauen treffen nun aufeinander: Melanies Tochter ist entführt worden, Clara ist eine der ermittelnden Polizisten. Im Laufe dieser Recherchen erfährt der Leser, dass Melanie ihre Kinder in den sozialen Medien „vermarktet“. Sie führt einen eigenen YouTube-Kanal, wo sie regelmäßig kurze Filmaufzeichnungen mit ihren Kindern veröffentlicht. Sie hat es zwischenzeitlich zusammen mit ihrem Ehemann, der für diese Tätigkeit sogar seinen Beruf aufgegeben hat, geschafft, das Leben ihrer Kinder in die Öffentlichkeit zu bringen und das eigentlich Private gänzlich zu eliminieren. Ständig werden neue Videos gedreht, in denen die Kinder bestimmte Produkte vorstellen und letztlich dafür Werbung betreiben. Durch die Verträge mit den Herstellern dieser Produkte fließen Millionenbeträge an die Eltern, die schließlich den erfolgreichsten Kinderkanal mit Millionen Followern betreiben. Für die Familie bedeutet dies aber auch, nur noch ein Leben in der Öffentlichkeit bzw. in den sozialen Medien zu führen. Melanie empfindet dies als absolute Erfüllung ihres Lebens und das ihrer Kinder. Für sie steht fest: „Die Kinder sind Könige.“ Die extreme Spannung, die nun die Suche nach der Entführten auslöst, entsteht durch das Aufeinanderprallen zweier Welten, nämlich der virtuellen Welt der Mutter und ihrer Kinder und der realen Welt der Polizistin.

Dass die Entführte wieder auftaucht, ist für die Geschichte eher nebensächlich. Wichtiger ist der dritte Teil des Romans, der im Jahr 2031 (!) spielt und in dem das weitere Schicksal bzw. der Lebensweg der beiden Kinder thematisiert wird. Dieser Teil soll an dieser Stelle aber nicht vorweggenommen werden, um die Spannung bei der Lektüre des Romans nicht zu zerstören.

Warum sollte man dieses Buch nun unbedingt lesen? Ganz einfach: Weil es sich mit einer ebenso aktuellen wie bedrückenden Thematik befasst, die in unserer Gesellschaft wohl weitestgehend unbekannt ist, die uns aber umso betroffener macht, wenn man sich einmal damit befasst hat. Es geht um die Rolle von Kindern als Influencer. Im Erwachsenenbereich ist uns das Problem bekannt und für den Rezipienten eher harmlos: Ein Volljähriger preist in den sozialen Medien Produkte an und wird dafür von deren Herstellern honoriert. Wenn jedoch Kinder von ihren Eltern zu Influencern gemacht werden, ist dies in vielerlei Hinsicht problematisch: Einerseits werden sie auf Grund ihres Alters nicht gefragt, ob sie diese Rolle überhaupt einnehmen wollen, es wird ihnen eher eine „heile Welt“ vorgegaukelt, in der alle Produkte für sie verfügbar sind. Darüber hinaus wird das ganze Leben der Kinder der Öffentlichkeit preisgegeben, selbst intime Dinge bleiben nicht verborgen. Auch dies ohne die Zustimmung der Kinder Und schließlich gibt es den Aspekt, dass es sich hier eigentlich um verbotene Kinderarbeit handelt. Insgesamt gesehen geht es also um eine besondere Art des Kindesmissbrauches, die einerseits weitestgehend unbekannt ist, aber auch überwiegend geduldet ist, da es sich hier um eine Grauzone handelt, die erst allmählich vom Gesetzgeber geregelt wird. Dass Kinder um ihre Kindheit und Jugend betrogen werden und damit einer angemessenen Sozialisation entzogen werden, ist sicherlich nicht zu entschuldigen, dass es aber Eltern gibt, die meinen, sie täten damit nur das Beste für ihre Kinder, ist nicht zu verstehen.

Der Roman ist in einer in Bezug auf die dargestellte Problematik um Distanz bemühten, klaren und gut lesbaren Sprache geschrieben, durch die eingestreuten Auszüge aus den Polizeiakten wird eine gewisse Objektivität erreicht. Dieses Buch ist – wie kaum ein anderes – für jeden Leser sehr empfehlenswert. Diejenigen, die sich mit YouTube-Kanal-Betreibern oder mit Instagram, mit Influencer und Followern nicht auskennen, lernen schnell die Abgründe dieser virtuellen Welt kennen. Diejenigen, die sich mit der „Szene“ auskennen und sie nutzen, bekommen ein Spiegelbild ihrer selbst vorgehalten, das nur erschrecken kann. In der Literaturkritik zu diesem Werk wird deshalb auch gefordert, diesen Roman zur Schullektüre zu machen. Dem kann ich nur zustimmen.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige | ISBN 978-3-8321-8188-8

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