Buchtipp: Die Frau im Musée d’Orsay

von Stephan Frank

Foto: Ingrid / Pixabay

Stephan Frank hat für unsere Leser David Foenkinos Roman ‚Die Frau im Musée d’Orsay‘ rezensiert.

Zum Autor: David Foenkinos, 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Er schreibt Romanbiographien („Charlotte“, „Lennon“), heitere Romane (Nathalie küsst“, „Das geheime Leben des Monsieur Pick“), die auch verfilmt worden sind. Der hier zu besprechende Roman stand wochenlang in den französischen Bestsellerlisten

Die eine Hauptperson des Romans ist Antoine Duris, ein Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Lyon. Wir erfahren, dass sich nach sieben Jahren seine Freundin von ihm endgültig getrennt hat. Dies führt bei ihm zu einer Unfähigkeit, sich erneut zu binden, er wird zu einem rücksichtslosen und egoistischen Einzelgänger. Sein Beruf steht für ihn im Mittelpunkt. Wir erfahren aber auch, dass er sich urplötzlich um eine Anstellung als Aufsicht  im Musée d’Orsay, dem weltbekannten Kunstmuseum in Paris, bewirbt und trotz aller Bedenken der dortigen Personalchefin diesen Job bekommt. Er bricht alle sozialen Kontakte ab und verlässt sein bisheriges Leben spurlos. Warum, erfahren wir erst sehr viel später.

Die zweite Hauptperson des Romans ist Camille Perrotin. Sie ist eine sehr gute Schülerin und malt leidenschaftlich gern. Ihre Eltern drängen sie, Zeichenunterricht bei Yvan, einem Kunstpädagogen und Freund des Hauses, zu nehmen. Dieser Lehrer vergewaltigt die sechzehnjährige Camille und droht ihr, dass ihrer Mutter Schreckliches passieren wird, sofern sie über diese Vergewaltigung mit anderen Personen spricht. Das Mädchen ist nicht zuletzt durch diese Drohung unfähig, dieses Verbrechen zu verarbeiten. Es folgt ein stetes Auf und Ab, von der Unfähigkeit, überhaupt noch irgendetwas zu tun, über Anfälle exzessiven Malens bis hin zu promiskuitivem Verhalten. Es gibt Zeiten, der Totalverweigerung – sie geht nicht einmal mehr zur Schule -, aber auch Zeiten, in denen sie sich scheinbar erholt, um z. B. ein glänzendes Abitur abzulegen und anschließend das Kunststudium an der Universität Lyon erfolgreich zu beginnen. Auch die Behandlung durch eine Psychiaterin hilft ihr nicht weiter, Camille ist – auf Grund der Drohung ihres Peinigers – nicht in der Lage, das Vergangene zu verbalisieren, um auf diese Weise Hilfe zu erhalten. Eine Entlastung findet sie nur in der Malerei und dem Studium, insbesondere das Urteil ihres Professors, nämlich Antoine Duris, lässt sie sich wieder der Welt etwas öffnen. Antoine Duris ist ohne jegliche Vorbehalte von Camilles künstlerischem Schaffen überzeugt und will sie fördern. Ein weiteres, ungewolltes Treffen mit ihrem Vergewaltiger in der Öffentlichkeit wirft Camille endgültig aus der Bahn. Sie ist zwar erstmals in der Lage, das Vergangene in Worte zu fassen, es ist allerdings ein Abschiedsbrief, geschrieben unmittelbar vor ihrem Suizid.  Dadurch wird schließlich die Verhaftung ihres Peinigers ermöglicht, der, wie wir nun erfahren, schon einschlägig bekannt ist und der nun freiwillig eine weitere Vergewaltigung gesteht. Er wirkt nach seiner Entdeckung nahezu erleichtert.

In diesem Suizid ist nun die Ursache zu sehen, warum Antoine Duris sich um die Stelle als Aufseher beworben hat. Zunächst gab er sich selbst die Schuld an Camilles Tod, hat er doch ihre letzte Klausur mit einem abwertenden Kommentar und einer schlechten Bewertung versehen. Nachdem er jedoch von Camilles Schicksal erfährt, bemüht er sich intensiv, das Werk seiner Studentin bekannt zu machen und auf ihr tragisches Schicksal hinzuweisen. Im Rahmen dieser Tätigkeit findet er zurück in sein altes Leben, er nimmt seine Arbeit an der Universität wieder auf und geht seine neue Bindung ein, und zwar mit Mathilde Mattel, der Personalchefin des Musée d’Orsay. Diese letzte Wendung des Romans sollte man allerdings nicht als Happy End betrachten. Soviel zum Inhalt des Romans. Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass dies nur ein kurzer Überblick ist, der z. B. die durchaus vorhandenen humorvollen Aspekte nicht auch noch berücksichtigen kann.

In der Kritik wurde dieses Werk des Autors sehr unterschiedlich bewertet. Manche Kritiker sehen hier einen reinen Liebesroman; man kann aber auch darin einen Künstlerroman bzw. einen Roman über die Bedeutung der Kunst entdecken, wie auch der französische Titel des Buches, „Vers la beauté“, nahelegt. Es gibt Kritiker, die die Sprache, den Stil als oberflächlich, distanziert und teilweise derb abtun, andere sehen darin bewusst gewählte Stilelemente. Aus meiner Sicht haben wir es hier mit einem Werk zu tun, das sich im Wesentlichen mit der #MeToo-Problematik befasst: Eine Vergewaltigung und ihre Folgen, und zwar nicht nur für die unmittelbar Betroffene, sondern auch für ihre Umgebung, z. B. für die Lehrer, Freunde oder die Eltern, die das Verhalten ihres Kindes nicht mehr verstehen und vollkommen hilflos sind. Letztlich ist es ein Roman, der Gewalt und ihre physischen und psychischen Folgen thematisiert.

Bislang hat jeder Leser, dem der Autor dieser Zeilen das Buch empfohlen hat, sich trotz des eigentlich unangenehmen Themas sehr positiv geäußert. Sollten Sie, lieber Leser, also noch einen Buchgutschein vom Weihnachtsfest besitzen, so ist hier ein Roman, für den sich der Einsatz dieses Gutscheines lohnt: Ein Buch, das betroffen macht, aber gerade deshalb lesenswert ist.

(David Foenkinos: Die Frau im Musée d’Orsay. München 2020. ISBN 9783328105848)

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