Ukrainer: Willkommen im #Neuland?

von Ria Garcia

Symbolbild: PublicDomainPictures / Pixabay

Ausgerechnet die IT-Infrastruktur sorgt aktuell für Verzögerungen bei der Registrierung hier ankommender Geflüchteter aus der Ukraine. Das spürt man auch in Erkrath.

“Das Internet ist für uns alle Neuland.” Dieser Satz von Angela Merkel aus 2013 ist unvergessen. Seit dem rüstet Deutschland in der IT auf und hat zahlreiche Digitalisierungsoffensiven ins Leben gerufen. Seit September 2015 wird auch die Digitalisierung von Asylverfahren vorangetrieben, wie einer Aufstellung von Digitalisierungsvorhaben des Bundesministeriums des Innern sowie des Bundes im Gesamtkontext Asyl aus 2018 zu entnehmen ist. Ein wichtiger Teil des Digitalen Asylverfahrens: Die Registrierung an PIK-Stationen. PIK steht für Personalisierungsinfrastrukturkomponenten des Bundes zur biometrischen Registrierung der Flüchtlinge, mit der definierte Daten, sogenannte Kerndaten, im Rahmen der Erstregistrierung erfasst und an die Betreiberbehörden übermittelt werden. Aber genau da hakt es gerade jetzt gewaltig. Dabei liest sich das auf der Homepage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur Digitalisierung von Asylverfahren ganz anders. Eigentlich müsste das so richtig ‘fluppen’, möchte man salopp meinen.

Wie etwas in Sachen Digitalisierung wirklich ‘fluppen’ kann, macht uns ausgerechnet die Ukraine, die einem aggressiven Angriffskrieg ausgesetzt ist, gerade vor: Digitaler Schulunterricht aus der Ukraine wird grenzüberschreitend auch für die Kinder Geflüchteter organisiert. Das hat bei uns in Deutschland im Lockdown noch nicht einmal für die Kinder hier vor Ort reibungslos funktioniert. Hier bei uns angekommen machen viele Geflüchtete erst einmal die Erfahrung, dass Digitalisierung und Internet in Deutschland offensichtlich immer noch ‘Neuland’ sind. Ob Deutschkurs oder Arbeitsaufnahme: Ohne die PIK-Erfassung nicht möglich und die dazugehörenden PIK-Stationen sind Mangelware. Für den gesamten Kreis Mettmann verfügt die Ausländerbehörde bis dato gerade einmal über eine Station. Und so sieht es nicht nur im Kreis Mettmann aus, wie die Kollegen bei der Tagesschau bereits am 4. April 2022 berichteten.

Große Belastung auch für Flüchtlingshelfer und Verwaltung in Erkrath

“Ich hab mir über Ostern einmal eine Auszeit nehmen müssen”, erzählt uns Dieter Thelen vom Freundeskreis für Flüchtlinge, den wir dann dennoch am Samstag vor Ostern sprechen konnten. Bereits am 9. April öffnete der Freundeskreis die Begegnungsstätte ‘Hand in Hand’ erstmals zur Beratung von Menschen, die aus der Ukraine zu uns geflohen sind. Immer samstags stehen die Helfer seit dem bereit und erfahren direkt, wo es bei der Registrierung und Anmeldung hakt. Ihre Arbeit ist anstrengend und mühseelig. “Bei der Ausländerbehörde können aktuell im Schnitt 100 Geflüchtete pro Woche über die PIK-Station registriert werden. Stand dieser Woche sind allein in Erkrath derzeit 400 Geflüchtete aus der Ukraine angekommen. Wenn man davon ausgeht, dass in jeder kreisangehörigen Stadt ähnlich viele Menschen angekommen sind, kann man sich ausrechnen, wann deren Registrierung abgeschlossen ist”, sagt uns Thelen resigniert. Um seine Prognose in einen Zahlenwert zu bringen: Es würde 40 Wochen dauern, bis alle registriert sind und es ist lange noch nicht davon auszugehen, dass keine neuen Flüchtlinge hinzukommen.

Jeden Samstag können sich Geflüchtete aus der Ukraine in der Begegnungsstätte
Hand in Hand beraten lassen. © SK

Eigentlich sollte die ‘Digitalisierung von Asylverfahren’ Prozesse erleichtern und beschleunigen. Darüber hinaus sollte sie Mehrfachmeldungen ausschließen und damit auch den mehrfachen Bezug von Leistungen. Eigentlich. Behörden sollten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Identität von Nachfragenden mittels Fast-ID Abfrage überprüfen (§11 Absatz 3a AsylbLG) können. Voraussetzung dafür ist natürlich die Registrierung über eine PIK-Station, ist die nicht erfolgt, müssen Mitarbeiter in den Kommunen Daten händisch eingeben und die Identität der Geflüchteten über deren Ausweispapiere feststellen, damit diese Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten können. In Anbetracht der Zahl von 400 Geflüchteten Menschen, die inzwischen in Erkrath angekommen sind, für die Sachbearbeiterin in der Stadtverwaltung Erkrath eine kaum zu leistende Aufgabe und so helfen sich Kollegen in der Verwaltung inzwischen aus, erklärt uns Dieter Thelen. “Das machen unter anderem Betreuer aus den Unterkünften, aber damit fehlen sie natürlich als Ansprechpartner vor Ort.”

Kurzfristige Hilfe in der Sachbearbeitung, wo zumindest mittelfristig Personal aufgestockt werden müsste. Denn mit der Erfassung der neuen Fälle ist es nicht getan. Solange die Menschen hier bei uns bleiben und ihren Lebensunterhalt nicht mittels einer Anstellung selbst bestreiten können, sind es zusätzlich zu verwaltende Fälle. Aktuell hat sich die Zahl der zu bearbeitenden Fälle damit für die eine zuständige Sachbearbeiterin in der Stadt mehr als verdoppelt. Thelen und viele ehrenamtliche Helfer ärgern sich auch über die unnötige Mehrarbeit, die Verwaltungsmitarbeiter an vielen Stellen leisten müssen. Statt ‘auf Knopfdruck Daten abrufen zu können’ müssen die Daten aktuell meist an drei verschiedenen Stellen (Ausländerbehörde, Sozialamt, Wohnungsgeber) händisch erfasst werden.

Problem erkannt, Problem gebannt?

Die sogenannten PIK-Stationen werden den Ländern aufgrund eines Rahmenvertrags zwischen Bund und Bundesdruckerei zur Verfügung gestellt. Für ganz NRW sind es 894 PIK-Stationen. Der Rahmenvertrag, der eigentlich Ende 2018 ausgelaufen wäre, wurde noch einmal bis 2024 verlängert, wie einem Schreiben des Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen an den Landtag aus Juli 2019 zu entnehmen ist. Zu wenige Stationen, wie sich aktuell zeigt. Das haben auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder erkannt. In einem am 7. April 2022 gefassten Beschluss haben sie unter anderem vorgesehen, aus der Ukraine Ankommende rasch und unkompliziert zu registrieren.

Dazu sollen auch zusätzliche PIK-Stationen angeschafft und zur Verfügung gestellt werden. “Dazu gehört auch, technische Probleme der IT schnellstmöglich zu beheben”, ist dem Beschluss ebenfalls zu entnehmen, denn fehlende PIK-Stationen sind nicht das einzige Problem. So war etwa dem oberhalb erwähnten Bericht bei Tagesschau.de zu entnehmen, dass es ‘vielfältig auftretende Störungsmeldungen, Datenverbindungsfehler sowie Ausfallzeiten aufgrund des Einspielens von Updates’ zusätzlich zu Verzögerungen führten.

Im oben genannten Beschluss ist auch festgehalten, dass “Die Registrierung durch die Ausländerbehörden, Erstaufnahmeeinrichtungen, Polizeien oder das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Ausländerzentralregister muss spätestens dann erfolgt sein, wenn staatliche Leistungen beantragt werden”, aber genau das funktioniert derzeit nicht und damit die Menschen, die zu uns kommen bis zum Abschluss der Registrierung nicht ‘hungern’ müssen, müssen Verwaltungsmitarbeiter Lösungen finden. Der Beschluss nennt aber auch ‘Polizeien’ als mögliche Stellen zur Registrierung, denn die verfügen über PIK-Stationen, die in Ausländerbehörden so rar sind.

Am vergangenen Donnerstag stellten wir deshalb eine Anfrage an die Pressestelle der Kreispolizeibehörde, die bis heute leider unbeantwortet blieb. Wir wollten wissen: “Wie viele Geräte zur Erfassung stehen in Polizeidienststellen im Kreis Mettmann derzeit zur Verfügung? | Erfolgt bereits eine Erfassung bei Polizeidienststellen im Kreis Mettmann? | Wenn nein: Wann soll diese starten und wie wird das kommuniziert?” (Sollten uns zeitnah Antworten auf unsere Fragen erreichen, werden wir diese hier ergänzen.)

+++Update+++

Heute morgen antwortete Polizeipressesprecher Ulrich Löhe auf unsere Fragen:

  1. Grundsätzlich sind wir als Kreispolizeibehörde Mettmann in die Registrierung von Flüchtlingen nicht eingebunden. Eine Änderung ist hier nicht bekannt oder angekündigt.
  2. Spezielle Geräte (IT und Software) sowie personelle Ressourcen für diesen Zweck stehen hier nicht zur Verfügung. Hard- und Software zur Durchführung erkennungsdienstlicher / kriminalpolizeilicher / strafrechtlicher Maßnahmen sind in ausreichender Anzahl vorhanden.
  3. Zwischen der Kreispolizeibehörde und dem Kreis Mettmann bestehen diverse Kooperationen. Im Rahmen von Amtshilfeersuchen unterstützen wir dabei im Einzelfall auch das Ausländeramt des Kreises bei deren Maßnahmen. Über Art und Umfang können und dürfen wir jedoch aus taktischen Gründen keine Angaben machen.

Wir bleiben mit neuen Fragen zurück. Erstens: Warum wird die Polizei im Kreis Mettmann nicht in die Registrierung eingebunden, obwohl der Beschluss vom 7. April 2022 (Kanzler und Länderchefs) die Polizeien ausdrücklich mit erwähnt und bekannt ist, dass es zu Verzögerungen in der Registrierung kommt? Zweitens: Die zweite Antwort birgt aus unserer Sicht einen Widerspruch in sich. Zuerst wird erwähnt, das weder personelle Ressourcen sowie IT und Software für den Erfassungszweck zur Verfügung stehen und im zweiten Satz heißt es dann: “Hard- und Software zur Durchführung erkennungsdienstlicher / kriminalpolizeilicher / strafrechtlicher Maßnahmen sind in ausreichender Anzahl vorhanden.” Sind die Geräte zur ‘erkennungsdienstlichen Erfassung’ bei uns im Kreis anders, als bei Polizeien in anderen Teilen des Landes? Berichte darüber, wie die Polizei anderen Orts längst bei der Registrierung von Flüchtlingen unterstützt, gibt es in verschiedenen Medien. Hier nur zwei Beispiele: Enzkreis und Ortenaukreis. Auch das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) erwähnt in den Verfahren immer wieder die Möglichkeit der Regiestrierung / biometrischen Erfassung durch die Polizeien.

+++ Update Ende +++

Nicht besser aufgestellt, als 2015

Zu diesem Schluss kommt Dieter Thelen mit Blick auf die aktuelle Situation. Man dürfe in der aktuellen Situation auch nicht die Menschen aus dem Blick verlieren, die schon damals als Flüchtlinge zu uns kamen und von denen viele immer noch in Unterkünften leben, weil sie keine passende bezahlbare Wohnung finden. Thelen und seine ehrenamtlichen Mitstreiter in der Flüchtlingshilfe bemühen sich laufend, etwas zur Optimierung der Abläufe beizutragen. Wer von den ukrainischen Schützlingen privat in Erkrath untergekommen ist, muss – um sich anmelden zu können und Anträge stellen zu können – im Bürgerbüro eine Bescheinigung des jeweiligen Wohnungsgebers vorlegen. “Das war mit der Online-Terminvergabe fast unmöglich. Für einen freien Termin im Bürgerbüro gab es vier Wochen Vorlaufzeit”, schildert Dieter Thelen. “In ganz Deutschland wird gelockert, aber in Erkrath begründet man die immer noch für den Besuch ohne Termin geschlossenen Bürgerbüros mit Corona”, ärgert er sich. In der Verwaltung schlug er deshalb vor, dass ein Mitarbeiter des Bürgerbüros im Sozialamt sitzen könne, damit es reibungslos läuft. Der Vorschlag kam in der Verwaltung so gut an, dass man die Möglichkeit prüft.

Dieter Thelen. Vorsitzender
des Freundeskreis für
Flüchtlinge Erkrath.
Archivbild 2019: RG

“Seit 2015 hat man an vielen Stellen nichts dazu gelernt. Personal wurde wieder abgebaut und vieles wurde verschlafen”, resümiert Thelen. Von der Politik wünscht er sich, dass – zumindest zeitlich begrenzt – Vereine wie der Freundeskreis für Flüchtlinge, finanziell unterstützt werden, damit sie mit eigenem Personal mehr zur Unterstützung beitragen können. Fälle, in denen die Unterstützung des Vereins – und nicht nur für aus der Ukraine Geflüchtete, sondern auch für alle anderen hier bei uns lebenden Flüchtlinge – gebraucht wird, könnte er stundenlang schildern. Die Zeit für eine intensive Einzelfallbetrachtung ist für Mitarbeiter der Verwaltung, die auch in der jetzigen Fluchtbewegung wieder Höchstleistungen bringen und bringen müssen, kaum noch möglich.

Warum die Verzögerung bei der Registrierung auch für die Wirtschaft Folgen hat

Solange zu uns geflüchtete Ukrainer die Registrierung über die sogenannten PIK-Stationen nicht abgeschlossen haben, können sie hier bei uns weder an einem vom BAMF geförderten Deutschkurs teilnehmen noch eine Arbeit aufnehmen. ‘Arbeiten vom ersten Tag an’, ist also allenfalls ein ‘geflügeltes Wort’. Aber längst nicht alle müssen erst einen Deutschkurs absolvieren, um eine Arbeit aufzunehmen. Ein Teil beherrscht Deutsch als Fremdsprache, ein anderer Teil Englisch und Unternehmen im Kreis suchen Hände ringend Mitarbeiter, vom Handwerk bis zum IT-Unternehmen. Letztere haben sogar noch ein ganz eigenes Problem: Sie beschäftigten zum Teil schon vor Kriegsbeginn in der Ukraine viele IT-Fachkräfte. Mit Kriegsbeginn haben sie versucht so viele, wie möglich nach Deutschland zu holen, damit sie hier vor Ort weiter für die Unternehmen tätig seien können. Das hätte ‘nahtlos’ funktionieren können, wenn da nicht die ‘Sache mit dem PIK’ wäre.

Wir haben mit einem Unternehmer aus der IT-Branche gesprochen, der im Kreis Mettmann lebt. “Wir haben den kompletten Betrieb eines unserer Unternehmen über die Ukraine abgewickelt. Wenn die Mitarbeiter, die hier zu uns nach Deutschland gekommen sind, nicht zeitnah ihre Arbeit wieder aufnehmen können, liegt der Betrieb lahm”, erzählt er uns. In diesem Zusammenhang muss man sicher wissen, dass Ukrainer, die in der IT tätig sind, fast ausnahmslos Freiberufler sind, weil die Tätigkeit in der Ukraine sozusagen ‘steuerbegünstigt’ ist. Mit 5 Prozent pauschaler Besteuerung stehen sich die Mitarbeiter als Freiberufler deutlich besser, als wenn sie in Festanstellung tätig wären.

Die Arbeitsaufnahme wäre für die IT-Fachleute – aber auch Fachkräften aus anderen Branchen – grundsätzlich sowohl in Festanstellung, als auch in selbständiger Form möglich. “Für uns ist das kein Problem. Wir würden sie als Freiberufler weiter beschäftigen, würden sie aber auch genauso gern in Festanstellung übernehmen, aber ohne Fiktionsbescheinigung können wir weder das eine, noch das andere”, schildert der Unternehmer. Die sogenannte ‘Fiktionsbescheinigung’ überbrückt das Aufenthaltsrecht, bis der eigentliche Aufenthaltstitel ausgestellt und erteilt werden kann. Für aus der Ukraine Geflüchtete enthält sie den Hinweis ‘Erwerbstätigkeit erlaubt’, womit die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ohne weitere Erlaubnis von anderer Stelle möglich ist.

Im Kreis Mettmann ‘noch Luft nach oben’?

Bei der Ausstellung einer solchen Fiktionsbescheinigung gibt es zwischen den Kommunen offensichtlich Unterschiede. Auch das konnte uns der IT-Unternehmer berichten. Seine Mitarbeiter aus der Ukraine sind zum Teil in Düsseldorf und zum Teil im Kreis Mettmann untergekommen. “Düsseldorf stellt auch ‘vorläufige’ Fiktionsbescheinigungen aus, sodass die Mitarbeiter schneller ihre Arbeit aufnehmen können. Im Kreis Mettmann ist das nicht der Fall, sodass der Ausfall hier für uns deutlich länger ist.”

Kleine Information am Rande: 50 Prozent der ukrainischen IT-Fachkräfte, die für den Unternehmer aus dem Kreis Mettmann arbeiten, sind Frauen, wie er uns im Gespräch verriet. Das dürfte für andere Unternehmen oder auch öffentliche Verwaltungen eine interessante Information sein, denn vielleicht sind die lange gesuchten IT-Fachkräfte ‘schon in der Stadt‘.

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