Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

Lieblingsliteratur - Empfehlungen von Elke Nußbaum

'Lieblingsliteratur' Symbolbild: congerdesign / Pixabay

Ich möchte den Leser*innen Leben und Werk einer jungen jüdischen Schriftstellerin vorstellen, die es verdient hat, in einem Atemzug mit Anne Frank genannt zu werden. | Ein Beitrag aus der Reihe ‘Lieblingsliteratur’ von Elke Nußbaum

Gleichzeitig erfahren Sie die besondere „Geschichte einer Entdeckung“: Selma Meerbaum-Eisinger, 1924-1942, von deren Lyrik (Hilde Domin,1909-2006) gesagt hat, sie sei zum Weinen schön.

Poem

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
So breit, so hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
Die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald, –
er sagt mir, dass das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt.
Die ferne Pappel winkt und winkt

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein…   7.7.1941

Dieses Gedicht Poem von Selma Meerbaum – Eisinger mit den Zeilen: Ich möchte leben / ich will nicht sterben. Nein! gelang 1968 von Bukarest nach Ostberlin in die von dem Autor Heinz Seydel herausgegebene Anthologie „Welch ein Wort in die Kälte gerufen“ mit dem Untertitel Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht. Paul Celan soll dem Abdruck seiner „Todesfuge“ in diesem Band vor allem deshalb zugestimmt haben, um damit seiner Kusine 2. Grades Selma ein Denkmal zu setzen. In Israel las Selma Meerbaum-Eisingers einstiger Klassenlehrer Hersch Segal das „Poem“ in der DDR-Anthologie, suchte erfolgreich nach ihren ehemaligen Freundinnen. Auf eigene Kosten – einen Verlag fand er nicht – druckte er 1976 sämtliche 57 Gedichte „Blütenlese“ in einer Auflage von 400 Exemplaren. Ein Privatdruck. Hilde Domin drückte dem Autor Jürgen Serke bei einem Besuch in Heidelberg den von Hersch Segal herausgegebenen Privatdruck in die Hand und sagt: „Lies mal!“

Jürgen Serke, der bereits 1976 in einer „Stern“-Serie und 1977 das gleichnamige Buch „Die verbrannten Dichter“ veröffentlicht hatte, reiste nach Israel und schrieb für den Stern im Mai 1980 „Die Geschichte einer Entdeckung.“ Noch im Herbst brachte der Hoffmann und Campe Verlag die Gedichte unter dem Titel: Meerbaum-Eisinger, Selma: „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“, Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund, hrsg. und eingeleitet von Jürgen Serke heraus. Die Resonanz der Medien war groß. Das Buch ging in die zweite Auflage und ins Taschenbuch von S. Fischer mit weiteren 14 Auflagen. Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Ausgabe von Selma MeerbaumEisingers Gedichtband Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund liegt seit 2005 die Jubiläumsausgabe vor mit dem Blumenbild des Albums, in dem Selma ihre Gedichte geschrieben hat. 2013 veröffentlicht  der Rimbaud-Verlag eine Neuausgabe des Herausgebers Helmut Braununter dem Titel Selma Meerbaum-Eisinger, „Du weißt du, wie ein Rabe schreit?“ Weitere Ausgaben der Gedichte erscheinen in Japan, in Italien, Frankreich, Großbritannien, in den Niederlanden und in der Ukraine in russischer Sprache. In Deutschland sind Hörbücher, das Projekt „Selma in der Schule“ und CDs mit Vertonungen veröffentlicht worden.

„The World Quintet“, eine Gruppe Schweizer Juden, erregt 2003 mit einer CD Aufsehen, auf der zwischen Instrumentalstücken Herbert Grönemeyer ein von David Klein vertontes Selma-Gedicht singt:

Trauer
Lichter spiegeln sich in schmutzig –nassen Pfützen,
gelb und fettig, schmutzig auch und schwer.
Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.
Tore hallen hehr und leer.

Liegt der Nebel müde auf den Straßen
und der Regen rinnt und rinnt.
Menschen sind zu traurig, um sich noch zu hassen,
und es hüstelt irgendwo ein Kind.

In den Gärten liegen halbverfaulte Blätter,
stehen Bänke, traurig, nass und grau,
kommt die Sonne immer seltener und später,
nimmt’s der Mond mit Scheinen nicht genau.

Dringt das halbe Tageslicht noch durch den Nebel,
trüb und grau und klebrig schwer.
Klirrt die Wache schläfrig mit dem Säbel
Und ein nasser Vogel zittert sehr.

Stehen dürre, hungerige Pferde
Dampfend da, mit müden Augen.
Ganz durchweicht, verstreut auf nasser Erde
kann der Hafer nicht mehr taugen.

An der modrigen Mauer
eine nasse Katze schleicht.
Mit hervorgekehrtem Pelz ein Bauer
schaut, ob ihm das Geld noch reicht.      6.12.1940

„Ich träume, atme , lebe, singe mit Selma, sagt David Klein, Jahrgang 1961, der Schlagzeuger des Quintetts und fährt fort: „Wir vergessen nicht Selmas Lebensbedrohung. Aber wir sehen sie in unseren musikalischen Interpretationen als eine junge Frau, die ihre Liebe so intensiv lebt, wie es heute die jungen Menschen auch tun. Sie gehört ihnen.“

Selma Meerbaum – Eisinger schreibt 17-jährig Gedichte über eine Liebe, die mehr ein Traum denn Wirklichkeit ist. Es ist die erste Liebe zu einem jungen Mann und zu der deutschen Sprache, die nicht mehr Landessprache ist. Selma ist Jüdin. Deutsche nehmen ihr die Freiheit und das Leben: sie stirbt am 16. Dezember 1942 an Flecktyphus im deutschen Arbeitslager Michailowkaja jenseits des Bug. Sie ist 18 Jahre alt, als sie dort verscharrt wird.

Was übriggeblieben und auf abenteuerliche Weise von Leidensgefährten gerettet worden ist, sind 57 Gedichte, Gedichte, die ein Stück Weltliteratur sind, und von denen Hilde Domin (1909-2006) sagt: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so schön, so hell und so bedroht.“

Kastanien
Auf dem glatten hellen Wege
liegen sie, verstreut und müde, 
braun und lächelnd wie ein weicher Mund,
voll und glänzend, lieb und rund,
hör’ ich sie wie perlende Etude.  

Wie ich eine nehme und in meine Hand sie lege,
sanft und zärtelnd wie ein kleines Kind,
denk’ ich an den Baum und an den Wind,
wie er leise durch die Blätter sang,
und wie den Kastanien dieses weiche Lied
sein muß wie der Sommer, der unmerklich schied,
nur als letzten Abschied lassend diesen Klang.

Und die eine hier in meiner Hand
Ist nicht braun und glänzend wie die andern,
sie ist matt und schläfrig wie der Sand,
der mit ihr durch meine Finger rollt.
Langsam, Schritt für Schritt, wie ungewollt
Laß’ ich meine Füße weiter wandern.      23.9.1939

Welke Blätter
Plötzlich hallt mein Schritt nicht mehr,
sondern rauschet leise, leise,
wie die tränenvolle Weise
die ich sing’, von Sehnsucht schwer.
Unter meinen müden Beinen,
die ich hebe wie im Traum,
liegen tot und voll von Weinen
Blätter von dem großen Baum.    24.9.1939

Ein Jahr vor der Deportation schreibt sie am 4.3.1941:

Du, weißt du…
Du, weißt du, wie ein Rabe schreit?  
Und wie die Nacht, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu fliehn?
Wie sie verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich
gehört sie dem Wind oder er ihr,
und sind die Wölfe mit ihrer Gier
nicht zum Zerreißen bereit?   …                   

Ein Dorf wird zur Hauptstadt: Die Geschichte von Czernowitz

Besonders Rose Ausländer sowie Paul Celan und jetzt auch Selma Meerbaum–Eisinger haben die Aufmerksamkeit der Leser*innen durch sie selbst oder durch ihr Werk auf die Bukowina und Czernowitz gelenkt. Weniger bekannt ist, dass auch andere namhafte Künstler zumindest eine Zeitlang in Czernowitz lebten und wirkten, z.B. die Schauspielerin Stella Avni, der Sänger Josef Schmidt. Zu den Wissenschaftlern, die Weltruhm erlangten, gehörte u.a. der Psychoanalytiker Wilhelm Reich. Sie alle bekannten sich ein Leben lang zu Czernowitz.

2008 feierten die Bürger von Czernowitz den 600. Geburtstag ihrer Stadt. Erstmals wurde 1408 ein Ort am Ufer des Flusses Pruth in einer Urkunde erwähnt. Als der österreichische Kaiser Anfang der 1840er Jahre beschloss, die Bukowina als eigenständiges Herzogtum von Galizien abzutrennen und damit ein Bollwerk gegen die Slawen zu errichten, begann der rasante Aufstieg des Dorfes Czernowitz zur Hauptstadt der Bukowina. Die Stadt wurde systematisch auf – und ausgebaut mit Rathaus, Ringplatz, Herrengasse, Volkspark, der größten Synagoge, genannt der Tempel, Universität, Stadttheater. Über 70 Synagogen, katholische und lutherische Kirchen, griechisch und russisch – orthodoxe Kathedralen und Kirchen der armenischen Christen prägten das Stadtbild.

Die Menschen, die die Bukowina und die Stadt bevölkerten, wurden als Siedler angeworben und mit Vergünstigungen angelockt. Die jungen Männer wurden vom Militärdienst befreit, die Steuern waren niedrig, für die Bauern gab es Landzuteilungen. Es kamen Ukrainer – damals Ruthenen genannt – Rumänen, Österreicher, Deutsche – vor allem Schwaben -, Magyaren, Armenier, Polen. Und es kamen Juden, viele Juden, denn ihnen wurden Schritt für Schritt die vollen Bürgerrechte eingeräumt. Für die Juden begann das „goldene“ Zeitalter von Czernowitz. Viele von ihnen assimilierten sich, ihre Sprache wurde deutsch, sie nutzten die Möglichkeit, sich zu bilden, wurden Ärzte, Juristen, Lehrer, Professoren, Fabrikanten und Geschäftsleute. Czernowitz war eine offene, tolerante Stadt. Die vielen Ethnien hatten ihre Sprachen, Religionen, Traditionen und Kulturen mitgebracht und behielten sie bei. Dieses friedliche Nebeneinander gelang über 75 Jahre bis zum Ende des ersten Weltkrieges, weil keine der Ethnien in der Mehrheit war, alle waren Minderheiten.

Nach dem Ende des ersten Weltkrieges okkupierte Rumänien die Bukowina. Im Nationalstatt Rumänien waren ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Stadt unerwünscht. Es begann eine ständig fortschreitende Demontage der bürgerlichen Freiheiten und sozialen Verhältnisse. Am Ende stand der zweite Weltkrieg und die Shoa, in denen die Einwohner von Czernowitz und damit auch ihre Stadt untergingen. Vom goldenen Zeitalter der Stadt erfuhr Selma Meerbaum-Eisinger nur aus Erzählungen der Eltern und älterer Menschen.

Selma und ihre Familie

Selma – von Geburt an Rumänin – wurde am 5. Februar 1924 geboren. Ihre Muttersprache war deutsch, deutsch war die alltägliche Sprache in der Familie, unter Freunden; in der Volksschule und im Lyceum jedoch musste sie rumänisch sprechen. Ihr Vater stammte aus einem Dorf in der Bukowina; nach der Volksschule ging er mit 15 nach Berlin, weil dort ein Onkel ein Geschäft besaß. Im ersten Weltkrieg kämpfte Max Meerbaum in der österreichischen Armee und erkrankte an Tuberkulose: Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging er zurück nach Czernowitz, weil Deutsch gesprochen wurde obwohl die Stadt nun zu Rumänien gehörte. In der Stadt sah er eine kleine Fensterauslage: rechts lagen Hefte, Zwirn, Nadeln, Kleinigkeiten; links war alles leer; Max ging hinein und fragte die junge Frau- Friederike Schrader-, ob er die leere Hälfte mieten könne; er wolle dort Schuhe und Sandalen verkaufen. Die beiden verliebten sich, heirateten und bekamen Selma.

Nach dem Tod des Vaters 1926 – er starb 29-jährig an den Folgen der Tuberkulose-  heiratete die Mutter später Leo Eisinger, der Selma adoptierte. Von da an wurde sein Name dem des Kindes angefügt: Meerbaum – Eisinger. Zu Leo Eisinger gibt es keine Informationen, außer dass er mit Frau und Tochter im Juni 1942 nach Transnistrien deportiert, über den Bug geschafft und im Lager Tarrasiwka, nahe dem Ort Michailowka am 10.12.1943 mit seiner Frau Friederike von der SS erschossen wurde. 

Die Familie wohnte im Süden der Stadt, dem Arme-Leute-Viertel. Renée Abramovici Michaeli war neun, als sie sich mit Selma befreundete; sie erzählte: „Selma ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen.  Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist rein gekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.“

Das Fehlen elektrischen Lichts, fließenden Wassers und eines Bades in den Außenbezirken war üblich. In den Gärten standen die Latrinen und zu jedem Haus gehörte ein Brunnen, so wie es heute noch in vielen Dörfern der Ukraine üblich ist. 2004 wird an dem gut erhaltenen Haus eine Gedenktafel für Selma angebracht.

Stille
Im Zimmer schwebt die Stille und die Wärme,
ganz wie der Vogel in durchglühter Luft,
und auf dem schwarzen kleinen Tische
liegt still das Deckchen, dünn und zart wie Duft.
Das Glas mit klarem Wasser, wie ein Traum,
wacht, daß das Glöckchen neben ihm nicht lärme,
und wartet scheinbar auf die kleinen Fische.
Die rote Nelke dämmert in den Raum,
als wäre sie dort eine Königin.

Die ganze Stille scheint für sie zu sein,
und nur die Flasche mit dem süßen Wein
blinkt still und wie befehlend zu ihr hin.
Sie aber schwebt auf ihrem grünen Stengel,
dünn wie im Kindertraum das Kleid der Engel,
und ihr betäubend süßer Duft lullt ein,
als wollt’ er aus dem Märchenschlaf
Dornröschen rauben.

Die Fenster blicken auf die Straße und sie glauben,
daß dort sei alles nur für sie getan.
Der Spiegel glänzt und in ihm tickt die Uhr,
ganz weit im fernen Dorfe kräht ein Hahn,
und die Gardinen bändigt eine blaue Schnur.
Die Nelke mit den zarten roten Spitzen
harret des Sonnenstrahls, der durch die Ritzen
Ihr heut ein Kleid aus Goldstaub angetan.   24.10.1939

Mochten Selmas Eltern finanziell in eher kargen Verhältnissen leben, Selma ist eindeutig gefördert worden. Im Hause ihres Großvaters, einem Bruder des Großvaters von Paul Celan, wurde ein sehr geselliges Leben geführt und Selma hatte daran Anteil. Ihre Freundin Renée Abramivici-Michaeli über Selma: „Sie war 1,60 Meter groß, hatte braune Augen, gekräuseltes brünettes Haar. Solange sie Zöpfe tragen musste, gab es zwischen ihr und ihrer Mutter morgens immer Krach. Die Mutter bürstete und flocht das Haar. Die Prozedur war zeitraubend, so daß wir Mühe hatten, rechtzeitig in die Schule zu kommen“.

Selma begann mit 15 Jahren, Gedichte zu schreiben; sieben davon hat sie in ihr Album „Blütenlese“ geschrieben. „Sie hat selten ihre Gedichte gezeigt“, erinnerte sich Abromovici-Michaeli, die mit Selma in der Klasse in der letzten Bank gesessen hat. „Wenn Selma der Unterricht nicht interessierte, ist sie unter die Bank gerutscht und hat dort gelesen, was ihr Spaß machte“.

Selma las Heine, Rilke, Verlaine und die damals populären indischen Weisheiten von Tagore „Begeistert war sie von Klabunds Nachdichtungen chinesischer Gedichte, die sie bei meiner Mutter fand“. Unter den 57 Gedichten, die der Band „Blütenlese“ enthält, befinden sich fünf Nachdichtungen von Gedichten anderer:

Herbstlied
(Gedicht von Paul Verlaine aus dem Französischen übersetzt)
Schluchzen so lang,
So ewig bang-
            Herbstgeigen,
Rührt an mein Herz
Mit dunklem Schmerz – 
            Schweigen

Alles erstickt,
So bleich bedrückt
            Schlägt’ die Stund,
Tauchen mir auf
Tage wie Rauch,
            weint mein Mund

Ich geh geschwind,
mich trägt der Wind,
            Müd und matt,
Lullt er mich ein
Ganz so wie ein
            Totes Blatt.       5.3.1941

Eine Schulfreundin erzählte, Selma sei immer in Bewegung gewesen. „Abends um zehn kam sie noch zu unserem Haus und pfiff mich raus. ‚Der Tag ist doch so groß, warum müsst ihr immer abends spazieren gehen?’ fragte meine Mutter, und Selma sagte: „ Lassen Sie uns doch.“ Sie tanzte sehr gern, war die Ausgelassenste in der Gruppe. Sie wollte jeden Moment ausleben.“ Eine andere Freundin meinte: „Eigentlich war sie doch immer traurig. Sie war sehr empfindsam. Das Lustige war nur äußerlich.“ Einig waren sich die Freundinnen lediglich darüber, dass Selma unkonventionell und zum Teil sehr unbürgerlich, immer außergewöhnlich gekleidet gewesen sei.

Gilu…
Eine Kette von glühenden, hingerissenen Menschen, die
                        nichts wollen als sich austoben…
Gilu…
            Alle in uns aufgespeicherten Energien verausgaben wir
                        in diesem Jauchzen, Singen, Stampfen –
            Für den Außenstehenden mag dieser Tanz nichts mehr
                        als ein ungeordnetes Schreien und Trampeln
                        bedeuten.
            Für uns ist es das Symbol unseres Lebens, unserer
                        Wünsche:
            „Freiheit auf allen Gebieten!“
Und wie aus dem anfangs sanften Wiegen – hin und
                        her, hin und her – plötzlich der Tanz löst, stürmisch
                        alles mit sich fortreißend…
Alle lachen wir und alle singen und jubeln wir mit –
            und tanzen, tanzen – als gelte es unser Leben…
Endlich löst sich die Verschlingung, und wir sind müde
                        und heiser und atemlos – aber wir sind glücklich!    Mai oder Juni 1939

„Gilu“ (freue dich) ist das Tanzlied der zionistischen Jugend und das erste Gedicht in der Sammlung „Blütenlese“. 1939 hat sich Selma der Jugendgruppe Haschmir –hazir (Der junge Wachmann) angeschlossen. In der Jugendgruppe lernte sie Lesjer Fichmann kennen und verliebte sich in ihn. Im Gegensatz zu Selma, die bei aller Träumerei das Glück in Cernowitz wollte, das greifbare Glück, war er Zionist, mit dem festen Willen, nach Palästina auszuwandern. Pearl Fichman, die Tante von Lesjer erinnerte: „Ich habe Selma als ein lebhaftes Mädchen in Erinnerung, klein, mit langen lockigem dunkelbraunem Haar… ihr Aussehen war auffallend, ein bißchen schlampig…Wenn Selma und Lesjer zusammen spazieren gingen, wirkten sie sehr gegensätzlich: Er groß, sehr gepflegt und kontrolliert, Selma in Gedanken, gleichgültig gegen ihr Äußeres. Sie sahen wie zwei völlig verschiedene Individuen aus, aber sie betete ihn regelrecht an.“

Schlaflied für dich
Komm zu mir, dann wieg’ ich dich,
wiege dich zur Ruh’,
Komm zu mir und weine nicht,
mache die Augen zu.  

Ich flechte dir aus meinem Haar
Eine Wiege, sieh!
Schläfst drin aller Schmerzen bar,
träumst drin ohne Müh’.

Meine Augen sollen dir
Blinkend Spielzeug sein.
Meine Lippen schenk’ ich dir –
trink dich in sie ein.
***
Es ist soviel buntes Geschehen
so viel lebendes Leben um mich – 
ich könnte atmen und sehen
und könnte das Schönste verstehen,
wenn ich eines nicht hätte: dich.

So aber bist du mir das Leben
Und das andre ist stumpf und leer.
Und alle Wellen verebben
und können mir gar nichts geben,
das so fern wär’ wie du und schwer.

Rote Nelken  (Auszüge)
Warum, warum bist du nicht da? Ich hab’ gespielt, ich
weiß – verzeih.
Ich hab’ mit meinem Glück gespielt – es ging entzwei –
            verzeih.
Es tut so weh, allein zu sein. Drum komm, ich warte ja.
Wir lachen uns ein neues Glück, so glaub es doch und komm
            zurück – es ist ja soviel Lachen da.
Schau mich doch an. Ist wohl mein Bild noch da in deinem
fernen Blick? …
Du bist so stark. Ich möchte mich so gern in deine Arme
            lehnen…
O, komm und führe mich so gut von Hindernis zu Hindernis.
Und dann – in unsrem Liebeszelt, o dann, dann werfen wir
der Welt das hellste Lachen zu.
Nicht wahr, du kommst, Ich wein nicht mehr. O nein, ich
            Bin ja nicht mehr leer,
du kommst gewiß, du kommst geschwind, o du mein starker,
schöner Wind…
Du bist so gut. Drum komm zurück – du sollst mich um
            die Schultern fassen,
wir wollen glühn so wie im Traum, wir wollen blühn wie
Baum nach Baum aufblühen werden dicht bei uns.
Ich will dann lachen. Und dann klingt die ganze Luft – die
Sonne klingt. Das Wasser klingt, es klingt die Nacht –
So hör, ich hab’ für dich gelacht!

Liebe, Krieg und Deportation

Am 1. September 1939 begann der zweite Weltkrieg. Am 26. Juni 1940 erzwang die Sowjetunion von Rumänien die Abtretung Bessarabiens und der Nordbukowina mit Czernowitz. Die Freundinnen Selmas erinnerten sich, wie man sich in der Stadt der Bedrohung durch die Nazis verschloss: „Das war für uns damals wie ein schreckliches Autounglück, das hat die anderen getroffen, uns trifft das nie. Als die Rumänen Czernowitz an die sozialistische Sowjetunion abtreten mussten, haben wir zuerst gedacht, jetzt wird alles besser. Wir haben ja an den Sozialismus geglaubt…Doch dann haben auch die Russen viele Juden verschleppt“.

Am 22. Juni 1941 griff Deutschland gemeinsam mit Rumänien die UDSSR an. Am 5. Juli 1941 zogen rumänische Truppen in Czernowitz ein und wurden fortan die Handlanger bei der Verfolgung der Juden. Renée Michaeli erzählte: „Aus unserem Klassenzimmer konnten wir damals in die Mensa der Universität schauen. Wir haben gesehen, wie jüdische Studenten verprügelt wurden, und wir haben erfahren, dass man einen von ihnen gezwungen hat, aus einem Fenster im dritten Stock des Gebäudes zu springen.“

Die Juden von Czernowitz verloren ihre Bürgerrechte; sie mussten den gelben Judenstern tragen, unbezahlte Zwangsarbeit leisten, hatten ab 18:00 Ausgehverbot. Am 11. Oktober 1941 wurde ein Getto errichtet, dass das gesamte Judenviertel umschloss: 60 000 Juden auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Auch die Familien Meerbaum, Schächter-Keren, Michaeli, Fichman, Segal waren Gefangene im Getto. Der Lehrer Hersch Segal erinnerte: „Das letzte Mal sah ich Selma im Getto in Czernowitz nach den ersten Deportierungen. Sie war ein wenig nachlässig im Äußeren, die Haare nicht ganz in Ordnung, verzweifelt wegen ihres Zustandes. Wir sprachen auch über ihre Mitschüler, die schon verschickt waren und über ihre Gedichte, die sie schrieb.“

Selma Meerbaum-Eisinger (rechts) und Else Schächter

Am 15.  November wurde das Getto aufgelöst, denn ohne die jüdische Bevölkerung war Czernowitz nicht lebensfähig. Doch die Deportationen durch die Rumänen in rumänische Arbeitslager diesseits des Bug, in deutsche jenseits des Bug hielten unvermindert an. Nach ihrer Rückkehr aus dem Getto beschloss Selma, ihre Gedichte für Lesjer aufzuschreiben und wählte ein Album mit einem aufgedrucktem Blumenmotiv. Hersch Segal beschrieb dieses Album: „Auf dem Einband des Albums ist ein Bild mit Blumenmotiv. Die erste Seite trägt den Titel des Gedichtbandes „Blütenlese“. Die Buchstaben sind von Selma gezeichnet – in rumänisch – gotischem Stil-… Die nächste Seite enthält die Widmung an ihren Freund: <Leiser Fichman zum Andenken und zum Dank für viel unvergesslich Schönes in Liebe gewidmet<…Das letzte im Album vorhandene Gedicht <Tragik> ist vom 23.12.1941…

Tragik
Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, daß man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
daß man wie Rauch ins Nichts zerfließt.

Darunter mit rotem Stift und hastig dahin geworfenen Buchstaben im Gegensatz zur Schönschrift aller anderen Texte

Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben. Schade, dass du dich nicht von mir empfehlen wolltest.
Alles Gute
Selma

Diese Zeilen schrieb Selma voller Verzweiflung, weil Lesjer Fichman sich nicht von ihr verabschiedet hatte. Tausende jüdische Männer zwischen 18 und 45 Jahren wurden in Arbeitslager in Rumänien gezwungen, wo sie im Straßenbau eingesetzt wurden. Selma war tief verletzt und die Gedichte Tragik und Spürst du es nicht…vom 23.12.1941 stehen für das Ende einer unerfüllten Liebe:

Spürst du es nicht, wenn ich um dich weine,
bist du wirklich so weit?
Und bist mir doch das Schönste, das Eine,
um das ich sie trage, die Einsamkeit.

Nach der Aufhebung des Gettos war die Familie Meerbaum-Eisinger in ihre Wohnung zurückgekehrt. Zweimal entging die Familie den „Aushebungen“, das dritte Mal am 28. Juni 1942 nicht. Rumänische Gendarmen brachten sie zum Makkabiplatz, dort wurden sie registriert, und in Viehwaggons zusammengedrängt, transportierte man sie am nächsten Tag nach Transnistrien (Gebiet zwischen Bug und Dnjestr, ehemals Kornkammer der Ukraine, dort richten die Rumänen Vernichtungslager für die Juden ein).
Am Abend des 28. Juni klopfte ein junger Mann an die Wohnungstür der befreundeten Familie Schächter-Keren, in der Hand ein Album: „Ich soll Ihnen das von Selma geben. Sie hat es mir zugesteckt, als man sie heute mit ihren Eltern holte. Sie möchten das Album an Selmas Freund Fichman weiterleiten.“

Als Lesjer Fichmann Anfang 1943 für ein paar Tage nach Czernowitz zurückkehren durfte, erhielt er das ihm „in Liebe“ zugedachte Album.

Träume
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die süß sind wie junger Wein.
Ich träume, es fallen die Blüten von Bäumen    
und hüllen und decken mich ein.

Und all diese Blüten,
sie werden zu Küssen,
die heiß sind wie roter Wein
und traurig wie die Falter, die wissen: sie müssen
verlöschen im sterbenden Schein.

Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die schwer sind wie müder Sand.
Ich träume, es fallen von den sterbenden Bäumen
die Blätter in meine Hand.

Und all diese Blätter,
sie werden zu Händen,
die zärteln wie rollender Sand
und müd sind wie Falter. Sie enden
noch eh’ sie ein Sonnenstrahl fand.

Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die blau sind wie Sehnsuchtsweh.
Ich träume, es fallen von den Bäumen
Flocken von klingendem Schnee. 

Und all diese Flocken
Sie werden zu Tränen.
Ich weine sie heiß und wirr –
Begreif meine Träume, Geliebter, sie sehnen
sich alle nur ewig nach dir                                  08.11.1941

Lesjer nahm das Album mit zur Zwangsarbeit und verwahrte es unter seinen Sachen im Lager bis 1944. Kurz bevor die Rote Armee Czernowitz kampflos einnahm, floh er aus dem rumänischen Arbeitslager, suchte Selmas Freundin Else Schächter in Czernowitz auf und ließ ihr das Album mit den Worten zurück: „Wer weiß, wie es unter den Russen wird. Ich will nicht noch einmal von Palästina abgeschnitten sein; aber ich will auch nicht, dass die Gedichte Selmas verloren gehen, wenn ich es nicht schaffe.“
Der 21-jährige Lesjer Fichman schaffte es nicht: Er gelangte nach Bukarest und bis ans Schwarze Meer. Am 5. August 1944 –dem 20igsten Geburtstag Selmas – wurde das mit jüdischen Flüchtlingen besetzte türkische Schiff „Mefkure“ von dem sowjetischen U-Boot SC-215 versenkt.

Selma Meerbaum-Eisinger kam in das Lager Cariera de patria, einem riesigen Steinbruch westlich des Bug. Im Steinbruch mussten die Gefangenen nicht arbeiten, da das Lager nur eine Durchgangsstation war. Drei Monate kampierte Selma mit ihren Eltern, Kranken, Kindern und Alten tagsüber unter freiem Himmel und waren der glühenden Sonne des ukrainischen Sommers ausgesetzt. Nur nachts durften sich die Häftlinge in den Unterkünften aufhalten. Außer einer dünnen Suppe gab es nichts zu essen.
Die Wachen waren ukrainische Hilfswillige, die unter der Aufsicht eines rumänischen Gendarmeriekommandos standen. Auf Fluchtversuchen, Auflehnung gegen die Wachen oder Ungehorsam gegenüber den Anordnungen der Lagerleitung stand der Tod durch Erschießen. Der einzig erhaltene Brief Selmas aus dem Lager -ganz winzig zusammengefaltet – schmuggelte ein kleiner ukrainischer Junge in das nächste Lager, in dem die Freundin Renée festgehalten wurde:

„Rena, es ist so heiß hier, daß ich zu faul bin, die Augen zu schließen, dass ich nicht im Stande bin, den Bleistift zu halten, und es mir schwer fällt einen Gedanken durch mein Hirn zu wälzen… Eigentlich sind schon mehr als zwei Jahre vergangen seit der Zeit, in der wir Nachmittage zusammengesessen sind ohne zu reden. Nachmittage, an welchen du gespielt hast, und ich zugehört habe, und wir beide genau gewusst haben, wie es jeder von uns zumute war…Ich weiß nicht, wie du es empfindest, ich jedenfalls sehne mich manchmal schon nach dem unsagbar süßen Weh solcher ErinnerungenNettchen, wie lange wird es noch dauern… ich bin noch nicht einmal drei Monate hier, und es kommt mir schon vor, dass ich wahnsinnig werden muß… Man hält es aus, trotzdem man immer wieder meint: Jetzt, jetzt ist es zuviel, ich halte nicht mehr durch, jetzt breche ich zusammen…
Küsse. Chasak (sei stark)
Selma.“

Am 17. August wurden die Häftlinge des Lagers am Steinbruch auf Lastwagen verladen und am 19. August kamen sie im Lager Michailowka an. Selma musste an der Heeresstraße IV Schwerstarbeit leisten. Wer das befohlene Pensum nicht schaffte, musste damit rechnen, von einem Wachmann erschossen zu werden. Die Opfer wurden am Straßenrand verscharrt. Selma, jung und zäh, kam trotz Hunger und Erschöpfung bis zum Winter 1942 durch. Im November wurden ihr und ihren Eltern ein Platz in der dritten Etage der Pritschen in einer Schule zugewiesen.

Durch den Maler Arnold Daghani und seine Frau Anisoara wissen wir, wann und wie Selma Meerbaum-Eisinger gestorben ist. Er hatte aus der Hölle des Arbeitslagers ein Tagebuch und Zeichnungen retten könnnen:
„19. Oktober 1942. Sonntag. Mir wurde von Selma Eisinger, achtzehn Jahre alt, das Buch >Das Heim und die Welt< von Tagore, das ihr gehörte, versprochen.“
„16. Dezember 1942. Gegen Abend hauchte Selma Meerbaum-Eisinger ihr Leben aus.“
„17. Dezember 1942. Prof. Dr. Gottlieb ist an Entkräftung gestorben. – Er und Selma wurden zusammen begraben…“
18. Dezember 1942. Frau Eisinger hat mir erzählt, dass Selma, bevor sie krank wurde, die Absicht gehabt hat, mit einem Milizmann zu fliehen. Sie erfuhr dies aus einem Abschiedsbrief an sie, der in Selmas Mantel gefunden wurde.

Später ergänzte Frau Anisoara, dass es Selmas Mutter und ihrem Stiefvater gelungen sein musste, die SS-Männer über den Gesundheitszustand der Tochter zu täuschen, denn, wer in Michailowka an Flecktyphus erkrankte, wurde von der SS sofort erschossen. Frau Daghani hat erzählt, wie Selma mit Fieber danieder gelegen und leise vor sich hin gesungen hat: „Die Stimme wurde immer schmaler, schwächer. Dann war es still.“
Arnold Daghani zeichnete damals die tote Selma in der Unterkunft. Über eine Leiter wurde die in eine Decke gehüllt Leiche von der obersten Plattform eines Bettgerüstes herabgehoben. Das Bild befindet sich in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

380 000 tote Juden deckt die ukrainische Erde. Von ehemals 800 000 Juden in Rumänien leben nach dem Zweiten Weltkrieg noch 220 000 in dem Land. Lange wurde in Rumänien die rumänische Schuld an der Ausrottung der Juden in Transnistrien geleugnet. Alle Verbrechen dort hätten die deutschen und später die Sowjets angerichtet.
Erst als Rumänien um die Aufnahme in die Nato und in die EU verhandelte, konnte eine internationale Historikerkommission die Vorfälle in Transnistrien prüfen und im Abschlussbericht 2004 die Verantwortung des rumänischen Staates und der handelnden Personen benennen. Was die Regierung anerkannte, ist aber bei der Bevölkerung noch nicht angekommen.

Die Freundinnen

Renée Abramovici-Michaeli und Else Schächter- Keren trafen sich 1944 in Czernowitz wieder: die eine war aus dem Lager geflohen, die andere von der Deportation verschont geblieben. Sie tauschten die Hinterlassenschaften ihrer Freundin Selma. Mit Selmas Album im Rucksack schlug sich Renée quer durch Europa: zu Fuß, mit dem Pferdewagen, auf Dächern von Personenzügen, durch Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, durch Österreich, durch Deutschland nach Paris. 1948 landete sie mit einem Schiff in Israel, in ihrem Handgepäck die Gedichte: „Mit den Gedichten Selmas hab’ ich die Heimat herumgetragen und hierhergebracht.“

Das Glück
Schlafen möcht’ ich,
Der Wind wiegt mich ein,
Und die Sehnsucht singt mich zur Ruh’.
Weinen möcht ich.
Schon die Blumen allein
Flüstern Tränen mir zu.

Sieh die Blätter:
Sie blinken im Wind
Und gaukeln Träume mir vor.
Ja und später –
lacht wo ein Kind.
Und irgendwo hofft ein Tor.

Sehnsucht hab’ ich
Wohl nach dem Glück?
Nach dem Glück.
Fragen möcht ich:
Kommt es zurück?
Nie zurück.   18.8.1941

1949 kam Else Schächter – Keren, ebenfalls über Paris, nach Israel. Hersch Segal war 1940 der Klassenlehrer im jüdischen Lyzeum von Czernowitz gewesen. Nach dem zweiten Weltkrieg hielt er Kontakt zu den wenigen einstigen Schülerinnen, die die Verfolgung überlebt hatten. Und er sammelte, was Czernowitz an Literatur hervorgebracht hatte. Der Abdruck des Gedichtes „Poem“ in der DDR-Anthologie ließ dem pensionierten Lehrer keine Ruhe mehr. Er setzte sich mit den zwei Freundinnen Selmas in Verbindung: die eine besaß die 57 Gedichte Selmas, die andere den aus dem Lager heraus geschmuggelten Brief Selmas. Einen Verlag für eine Buchveröffentlichung fand er nicht. Er ließ sämtliche erhalten gebliebene Gedichte Selmas auf eigene Kosten drucken.

Und damit kehren wir an den Anfang unserer Geschichte zurück. Im Herbst 1980 erscheinen die Gedichte in Deutschland unter dem Titel Ich bin in Sehnsucht eingehülltGedichte eines jüdischen Mädchens an ihren Freund. Eine junge Frau konnte ihre Liebe nicht leben. Sie musste 18-jährig sterben, weil sie Jüdin war.

57 Gedichte machten Selma Meerbaum – Eisinger unvergesslich.

Schlaflied für die Sehnsucht
(Zu singen nach der Melodie: <di zun iz fargangen< von Morchedai Gebirgtig)
O lege, Geliebter,
den Kopf in die Hände
und höre, ich sing’ dir ein Lied.
Ich sing dir’ dir von Weh und von Tod und vom Ende,
ich sing’ dir vom Glücke, das schied.

Komm, schließe die Augen,
ich will dich dann wiegen,
wir träumen beide vom Glück.
Wir träumen dann beide die goldensten Lügen,
wir träumen uns weit, weit zurück.

Und sieh nur Geliebter,
im Traume da kehren
wieder die Tage voll Licht.
Vergesse die Stunden, die wehen und leeren
von Trauer und Leid und Verzicht.

Doch dann – das Erwachen,
Geliebter ist Grauen –
ach, alles ist leerer als je –
Oh, könnten die Träume mein Glück wieder bauen,
verjagen mein wild-heißes Weh.

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