Rose Ausländer (1901 – 1988)

Lieblingsliteratur - Empfehlungen von Elke Nußbaum

'Lieblingsliteratur' Symbolbild: congerdesign / Pixabay

In Czernowitz geboren, zeitweise in New York gelebt und schließlich in Düsseldorf gestorben, hinterlässt Rose Ausländer einen lyrischen Schatz. | Ein Beitrag aus der Reihe ‘Lieblingsliteratur’ von Elke Nußbaum

Heute möchte ich die Leser*innen in einem Überblick mit Leben und Werk von Rose Ausländer bekannt machen. Mich beeindrucken ihr Leben und ihre herausragende Begabung mit der Stimme der Lyrik, der leisesten aller Künste, so laut und wirkungsvoll zu sein.

Einführung

Am 11. Mai 1901 wird Rose Ausländer geb. Scherzer in Czernowitz / Bukowina (damals zu Österreich/Ungarn gehörig, heute Ukraine) geboren.

Geburtstag im Mai

Flieder verführt mich
zum Schwur
Ich bin ein Atem
im Mai

Die blauen Adernflüsse
wer nimmt ihre Mündung wahr

Welchen Anteil
haben die Sterne
an meinem Traum

Im Maiglöckenraum
dem störrischen Stier
geweiht

Der Widerspruch
steckt mir als Angel
im Blut.

Sie stirbt am 3. Januar 1988 in Düsseldorf.

Ins Nichts

Ich schreibe mich
Ins Nichts
Es wird mich auf
ewig
aufbewahren

Das Leben der Dichterin umschließt fast das ganze 20. Jahrhundert: zwei Weltkriege, Flucht und Vertreibung, Shoa und Exil. Sie wird zur Nomadin, die nach dem Verlust der Heimat zwischen Europa und Amerika pendelnd, vergeblich versucht, sich an einem Ort dieser Erde erneut zu verwurzeln. Mutter Sprache wird ihre Heimat und sie lebt in ihrem

Mutterland Wort

Mein Vaterland ist tot
sie haben es begraben
im Feuer
ich lebe
in meinem Mutterland
Wort

Dreifache Nachteile hat sie zu überwinden: sie ist Frau, Jüdin und Lyrikerin.

Als Frau muss sie zu ihrer Lebenszeit Bildung, Ausbildung, berufliches Fortkommen, ein Leben außerhalb der bürgerlichen Normen und ihre Selbstbestimmung ertrotzen.

Als Jüdin ist sie – nicht religiös, sich aber zum Volk der Juden bekennend – der Verfolgung und der Vernichtung ihres Volkes ausgesetzt, von ihr erlebt und erlitten im Getto von Czernowitz; sie überlebt, Körper und Seele verzehrt und für immer gezeichnet.

Als Lyrikerin wird sie Jahrzehnte nicht wahrgenommen, denn Lyrik hat die leiseste Stimme von allen Künsten.

Ihr Schreiben ist biografisch von der Heimat in der Bukowina, der Kindheit und Jugend, über das Judentum, hin zu Shoa- und Exilgedichten, über Liebe, Altwerden und Tod.

Die hohe Zahl ihres Werkes – über 3000 Gedichte – ist Folge eines triebhaften Schreibens.  Rose Ausländer selbst hat die Frage nach den Motiven ihres Schreibens auf den klaren Nenner gebracht:

„Warum ich schreibe: Weil Wörter mir diktieren: schreib uns…
Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen…. Schreiben ist ein Trieb. Schreiben war Leben. Überleben!“

Kindheit und Jugend in Cernowitz

Rose Ausländer (†) 1918
Bild aus dem Nachlass
Max Scherzer

Im Mai 1901 wird Rosalie Beatrice Scherzer in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, damals zu Österreich-Ungarn gehörend in der Moriariugasse 5 am Rande des Judenviertels geboren:

Erfahrung III

Morariugasse
hier wohnen wir
Wagenräder begleiten
die Wiegenlieder meiner Mutter

Gassenkinder brüllen und
zerren sich an den Haaren

Eine Prozession zieht vorüber
Regen fällt auf die Fahnen
dann wölbt sich ein Regenbogen
über ein Lächeln

Öffne die Fenster
zur Wirbelwelt
der Morariugasse

Der Vater Sigmund Süssi Scherzer war jüdisch-orthodox erzogen, studierte beim Wunderrabi in Sadagora, einer Kleinstadt bei Czernowitz, wurde Kaufmann und Prokurist in einer Import-Export-Firma.

Der Vater

Am Hofe des Wunderrabbi von Sadagora
lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse
Seine Ohrlocken läuteten Legenden
in den Händen hielt er den hebräischen Wald…
Einmal wollte der Siebzehnjährige
die andere Seite sehn
ging in die westliche Stadt
verliebte sich in sie
blieb an ihr haften

Die Familie der Mutter Kathie Etie Rifke Scherzer, geborene Binder kam ursprünglich aus Berlin:

Meine Nachtigall

Meine Mutter war einmal ein Reh
Die goldbraunen Augen
die Anmut
blieben ihr aus der Rehzeit
Hier war sie
halb Engel halb Mensch
die Mitte war Mutter
Als ich sie fragte was sie gern geworden wäre
sagte sie: eine Nachtigall

Jetzt ist sie eine Nachtigall
Nacht um Nacht höre ich sie
Im Garten meines schlaflosen Traumes…

1906 wird dem Ehepaar Scherzer erneut ein Sohn geboren: Maximilian Scherzer, verstorben 1993 in New York im Alter von 87 Jahren.

Bis zum 1. Weltkrieg ist das Leben in der Bukowina und insbesondere in Czernowitz geprägt durch toleranten Umgang in einem multikulturellen Vielvölkerstaat: Deutsche, Österreicher, Rumänen, Polen, Ungarn, Russen und Juden; sie stellen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung und prägen nachhaltig die Kultur in Czernowitz. Unter Schriftstellern, Malern, Bildhauern Musikern, Komponisten, Schauspielern und Intellektuellen sind Menschen jüdischen Glaubens besonders stark vertreten: z. B. die Dichter*innen  Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger, Paul Celan, Elisier Steinbarg, der Maler Oskar Lasker, der Opernsänger Joseph Schmidt, die Schauspielerin Stella Avni. Gesprochen wird rumänisch, deutsch, jiddisch und ruthenisch:

Vier Sprachen
Viersprachenlieder
Menschen
die sich verstehn (aus Bukowina III)

Rose Scherzer besucht ab 1908 die sechsklassige Kommunale Mädchen-Volksschule in Czernowitz; das Abschlusszeugnis weist Rosalie als braves und kluges Mädchen  – alle elf Fächer mit der Note eins- aus, so dass der Besuch der Mittelschule zunächst in Czernowitz, dann kriegsbedingt in Budapest und Wien mit Abschluss selbstverständlich ist; für zwei Jahre besucht sie die Germinal-Handelsschule der Wiener Kaufmannschaft, hier erlernt sie die Stenoschrift, die sie ihr Leben lang beibehalten wird. Ihre gründliche Ausbildung wird ihr im späteren Leben von großem Nutzen sein.

Veränderte Heimat

Die Familie kehrt 1919 ins rumänische Czernowitz zurück, nachdem der Vater sich in Wien vergeblich bemüht hat, eine Existenz aufzubauen. Doch wie gravierend hat sich das Leben dort durch die Nationalisierung und Rumänisierung der Bukowina und insbesondere von Czernowitz verändert. Rumänien tritt als bewusster Nationalstaat auf, der die Abweichungen ethnischer oder kultureller Minderheiten nicht dulden will. Rumänisch wird einzige Amtssprache.

Als Gasthörerin beginnt Rose Scherzer das Studium der Philosophie und der Literatur an der Universität Czernowitz, an der jetzt nur noch rumänisch gesprochen werden darf.

Im September 1920 stirbt der Vater – nicht einmal 50-jährig- an den Folgen einer Lungenentzündung. Mit dem Tod des Vaters enden die trotz Krieg und Vertreibung glücklichen Kinder – und Jugendjahre der Rosalie Scherzer. Sie selbst hat diese Zeit als die einzige bezeichnet, in der sie glücklich gewesen sei. In vielen Gedichten erinnert sie sich an die Eltern, die Mitmenschen, die Kinder, mit denen sie spielte, an die Landschaften, die Berge, den Pruth, an das soziale und kulturelle Miteinander Menschen in der Bukowina, bzw. in Czernowitz.

Heimatstadt

Eine goldene Kette
Fesselt mich
An meine urliebe Stadt

Wo die Sonne aufgeht
Wo sie untergegangen ist.

Auswanderung nach Amerika (New York) und Rückkehr nach Cernowitz

Nach dem Tod des Vaters kann die Mutter die Familie nicht allein ernähren und bestimmt, dass Rose in die USA auswandern solle. Rosalie empfindet die Entscheidung der Mutter als ein Verstoßen werden. Ihre Reaktion besteht in einem besonders ausgeprägten Leiden an der Fremde und in einem reflexhaften Beschwören der Mutterliebe: „Die Mutter strömt mir ins Gefühl, ich kann mich nicht entwöhnen.“ Sie selbst wird die Bindung an die Mutter immer wieder suchen und herstellen: so als die Mutter 1927 an Herzasthma erkrankt und der Pflege bedarf; einem weiteren Hilferuf der Mutter folgt sie auch 1939 trotz der zu erwartenden Verfolgungen durch Nazideutschland: die Mutter braucht Hilfe und die Tochter kehrt aus New York zurück trotz der Gefahr.

1921 bricht Rosalie Scherzer mit einem Jugendfreund Ignaz Ausländer nach Amerika auf. Beide leben zunächst in dem kleinen Ort Winona in Minnesota: „Rasierte Rasen vor jedem Haus. Rasierte Seelen in den Stuben. Nur glockenklare Wasserfällchen und das viele Grün“, machen ihr den Aufenthalt dort erträglich.

Die Farbe Grün wird von jetzt an in ihren Gedichten als positives Adjektiv ihrer Heimat zugeordnet, als Sprache der Natur; als Gegensatz dazu steht für sie die Farbe Grau als Ausdruck für Verstädterung, Technik und für Krieg. Sie findet eine Stelle als Hilfsredakteurin und Sekretärin bei einer deutschen Wochenzeitung; kurze Zeit später betreut sie die Kalenderanthologie des Verlages; in dieser Anthologie hat sie erstmals eigene Gedichte veröffentlicht.

1923 übersiedeln sie und Ignaz Ausländer nach New York.

Rose Scherzer und Ignaz Ausländer heiraten im Oktober 1923: wohl nicht mehr als eine Zweckgemeinschaft. Sie kennen sich aus Jugendtagen, haben beide Schwierigkeiten mit dem „american way of life“ und trösten sich über das Heimweh hinweg. Gedichte über die Liebe zu Ignaz Ausländer hat sie nie geschrieben; der gemeinsame Versuch musste scheitern, sie waren zu verschieden.

1926 nehmen beide die amerikanische Staatsbürgerschaft an und können nun an nach Czernowitz reisen, um die Mutter, Bruder, Freunde und Bekannte wieder zu sehen.

Begegnung mit der großen Liebe ihres Lebens

Im Dezember 1926 bittet eine Freundin Rose Ausländer darum, dem Graphologen Helios Hecht wegen eines Gutachtens eine anonyme Handschriftenprobe zu überbringen: Rose Ausländer kommt der Bitte nach und wie ein Blitz trifft sie die Liebe zu dem um 14 Jahre älteren Mann, der zu der großen Liebe ihres Lebens wird:

Dass Helios Hecht verheiratet ist, ist ihr egal, sie liebt schrankenlos, ohne Kompromiss, trennt sich sofort von ihrem Mann und bezieht mit Hecht, der sich von seiner Frau Lucy trennt, eine gemeinsame Wohnung.

Ende 1928 fliegt sie in Begleitung von Helios Hecht nach New York. Nach der Scheidung von Ignaz Ausländer kehrt Rose Ausländer mit H. Hecht 1931 nach Czernowitz zurück. Hecht arbeitet als Graphologe; Rose Ausländer nimmt teil am Czernowitzer Kulturleben und versucht, sich mit Honoraren für ihre Artikel, Gedichte und Lebensberatungsbeiträge wie mit privatem Englischunterricht über Wasser zu halten.

Seit Ende 1933 lebt sie mit H. Hecht in Bukarest: um den Schein zu wahren – Hechts Versuch, sich scheiden zu lassen, ist misslungen, seine Frau willigt nicht in die Scheidung ein- unterhält Hecht in der gemeinsamen Wohnung ein Büro, so dass seine ständige Anwesenheit erklärbar ist.

1935 trennt sich Rose Ausländer rücksichtslos und absolut von Hecht, er hat ohne ihr Wissen und Billigung mehrere ihrer Gedichte und auf dieser Grundlage eine „Charakteranalyse Rose Ausländer“ in seiner Zeitschrift „Neue Heimat“ veröffentlicht; sie –über diesen Vertrauensbruch entsetzt – ist nicht zur Versöhnung bereit, obwohl sie ihn ihr Leben lang geliebt hat, noch 86-jährig schreibt sie dieses Gedicht an ihn:

LIEBE VI

Wir werden uns wiederfinden
im See
du als Wasser
ich als Lotusblume

Du wirst mich tragen
ich werde dich trinken

Wir werden uns angehören
vor allen Augen

Sogar die Sterne
werden sich wundern:
hier haben sich zwei
zurückverwandelt
in ihren Traum
der sie erwählte.

Hecht verlässt Bukarest

In der Anonymität der Großstadt Bukarest bleibt Rose Ausländer weit gehend verschont von einem wachsenden latenten Antisemitismus, wie er sich in Czernowitz ausbreitet; denn es bringt Vorteile bei rumänischen Nationalisten und deutschen Faschisten, gegen Juden zu sein.

1937 verliert sie die amerikanische Staatsbürgerschaft; 1939 erscheint ihr erstes Buch „Der Regenbogen“ in dem Czernowitzer Verlag Literaria in 400 Exemplaren auf Deutsch. Ein Erfolg beim Publikum bleibt ihr versagt: in Deutschland wird das Buch einer Jüdin nicht mehr zur Kenntnis genommen und auch in dem mit Deutschland verbündeten Rumänien ist das Buch einer Jüdin unerwünscht.

Leben im Ghetto

Im Juni 1940 besetzen sowjetische Truppen Czernowitz und die nördliche Bukowina; viele deutsch-jüdische Bewohner werden nach Sibirien verschleppt.

1941 besetzen SS- Einsatzgruppen die Stadt und am 6. Juli beginnt die Verfolgung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerung; das alte Judenviertel der Stadt wird zum Ghetto und 60 000 Menschen werden auf engstem Raum zusammengepfercht. Rose Ausländer wird als Zwangsarbeiterin bei Straßen- und Verladearbeiten herangezogen. Und doch muss es als großes Glück bezeichnet werden, dass sie nicht zu den 45 000 Czernowitzer Juden gehört, die nach Transnistrien (Gebiet zwischen Bug und Dnjestr, ehemals Kornkammer der Ukraine, dort richten die Rumänen Vernichtungslager für die Juden ein) deportiert werden. Die Rumänen, unterstützt von SS-Truppen, brachten die Juden in dem fast menschenleeren gebiet in Lagern unter, die im Wesentlichen aus Erdlöchern bestanden und überließen sie ihrem Schicksal.

In Kellerverstecken kann sich Rose Ausländer mit ihrer Mutter der Deportation entziehen; nur die Beschäftigung mit Literatur und Philosophie ermöglicht ihr das Überleben.

Im Februar 1944 besetzen russische Truppen die Stadt, das Ghetto wird aufgelöst; doch die Leidenszeit der 5000 überlebenden Juden ist nicht zu Ende: waren sie für die Rumänen deutsche Juden, so waren sie für die Russen Deutsche. Wer arbeitsfähig ist und keinen Arbeitsplatz vorweisen kann, wird zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert.

Rose Ausländer hat das Glück von einem Czernowitzer Arzt, dem die Leitung der Bibliothek übertragen wurde, dort angestellt zu werden. In dieser Zeit bildet sich ein Kreis von Autoren, die sich regelmäßig treffen und ihre Texte vorlesen; so kommt es auch zu ersten Begegnung zwischen Paul Antschel, der sich später Paul Celan nennt, und Rose Ausländer, die zu den wenigen gehört, die sich von Beginn an vehement für seine Texte einsetzt.

1945 wird Czernowitz der Ukraine zugeschlagen, und der jüdischen Bevölkerung wird frei gestellt, dort zu bleiben oder auszureisen.

Als ich
aus der
Kindheit floh
erstickte
mein Glück
in der Fremde
Als ich
im Getto
erstarrte
erfror
mein Herz
im Kellerversteck

Ich Überlebende
des Grauens
schreibe aus Worten
Leben

Zeit in Amerika

Amerikanische Freunde haben Rose Ausländer Einwanderungspapiere besorgt, stellen die Bürgschaft, so dass sie wieder in die USA einreisen kann.

Von 1946 bis 1964 wird sie in den USA bleiben, ohne sich – trotz liebevoller Annahme – wirklich geborgen zu fühlen. Als die Mutter 73-jährig in Bukarest stirbt, bricht Rose Ausländer physisch und psychisch zusammen. Es scheint, als werde der Verlust der Heimat damit endgültig und als brächen alle Dämme, die sie gegen das Erinnern an die Shoa in ihrem Gedächtnis errichtet hat. Ein halbes Jahr bleibt Rose Ausländer in ärztlicher und psychologischer Behandlung.

Sie findet Arbeit als Fremdsprachenkorrespondentin bei einer Speditionsfirma, bei der sie bis 1961 tätig ist. Nach ihrer Schreibhemmung, ausgelöst durch den Tod der Mutter, verfasst sie von 1949 bis 1956 ihre Texte ausschließlich in englischer Sprache.

Bis 1956 hat sie traditionell gedichtet  in gereimten Versen, den Gesetzen der Metrik folgend;  nach der englischen Schreibphase „modern“ ohne Endreim und Versmaß.

Zeit des Reisens, des „Wanderlebens“

1957 unternimmt sie eine lang geplante Europareise, die sie u. a. nach Italien führt, ihrem Traumland:

Mein Venedig

Venedig
meine Stadt

Ich fühle sie
von Welle zu Welle
von Brücke zu Brücke

Ich wohne in jedem Palast
am großen Kanal

Meine Glocken
läuten Gedichte

Mein Venedig
versinkt nicht

Und nach Paris, wo sie Paul Celan wieder trifft, der sie darin bestärkt ihren neuen Stil konsequent weiter zu entwickeln; nach seinem Freitod (1970) wird sie schreiben:

Paul Celans Grab

Keine Blumen gepflanzt
das sei überflüssig

Nichts Überflüssiges
nur
wilder Klatschmohn
schwarzzüngig
ruft uns ins Gedächtnis
wer unter ihm
blühte

1959 stellt Michael Ende Gedichte von Rose Ausländer im Bayerischen Rundfunk vor: es ist das erste Mal, dass ihre Gedichte in Deutschland verbreitet werden.

1964 reist Rose Ausländer nach Israel, bleibt aber nur vier Wochen; sie fühlt sich zwar dem jüdischen Volk und der Schicksalsgemeinschaft der Juden zugehörig, ist aber keine gläubige Jüdin.

Nach ihrer Rückkehr aus Israel übersiedelt Rose Ausländer nach Wien in das deutschsprachige Milieu und wieder bleibt sie heimatlos:  wegen antisemitischer Erfahrungen, der ihr begegnenden Kälte und Provinzialität verlässt sie Wien nach einem Jahr und nimmt ihren Wohnsitz auf Dauer in Düsseldorf. Sie mietet keine Wohnung, sondern lebt in der Pension Cordes, Gustav-Poensgen- Straße 9.

Von 1965 bis 1972 hat sie sich nur drei Monate in Düsseldorf aufgehalten und lebt wieder aus ihren Koffern; die übrige Zeit ist sie auf Reisen zu Freunden, Lesungen und literarischen Terminen, zu Kuren und um andere Städte, andere Länder kennen zu lernen.

Im Süden

Mit den Zugvögeln
nach Süden ziehn

wo die Sonne
uns liebt

wo Palmen
ihre Fächer öffnen

wo die Flüsse
silber sind

wo wir aufgenommen werden
freundschaftlich

Prag

Immer träumte ich nach Prag
immer kam etwa dazwischen
Zeitnot Krankheit Krieg

Kafka stand
vor dem Hradschin
verirrter Himmelsbote

Ich schwöre
beim heiligen Franz
Ich kann die Mauern
nicht durchbrechen
die Zauberkünste schlafen

Gut mit ihnen
Kirschen essen

Trauert Prag
um meinen Traum
Mein Traum
trauert um Prag

Ist sie in Düsseldorf, konzentriert sie sich ganz auf ihre Arbeit, verbringt den ganzen Vormittag, manchmal den ganzen Tag im Bett, wo sie ihre Gedichte verfasst, ihre umfangreiche Korrespondenz erledigt.

1965 erscheint 26 Jahre nach ihrem Erstlingsbuch der zweite Gedichtband „Blinder Sommer“, der zwar bei der Kritik Beachtung findet, das Lesepublikum jedoch nicht erreicht.

Einem Düsseldorfer Rechtsanwalt gelingt es, für Rose Ausländer eine einmalige Entschädigungszahlung als Verfolgte des Nazi-Regimes und ab 1. Januar 1967 eine Monatsrente durchzusetzen; dadurch verbessert sich ihre materielle Lebenssituation und die materielle Zukunftsangst entfällt.

Im Mai 1967 wird ihr der Droste-Preis für Dichterinnen der Stadt Merseburg verliehen; dieser Preis ist eine Auszeichnung, die geeignet ist, Rose Ausländer die dringend nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sie wird in den Printmedien, im Hörfunk präsent, ihre Gedichte und Prosa erscheinen in Anthologien, in Zeitungen und Zeitschriften.

Nach einem einjährigen „Erinnerungstrip“ (1968/1969) durch die USA kehrt sie nach Düsseldorf zurück. Und wieder startet sie von hier aus eine Vielzahl von Reisen, zu Kuren und Lesungen; dabei berichtet sie in ihren Briefen von einer Häufung von Krankheiten und Plagen. Für ihr Wanderleben, das zunehmend mühsamer wird, steht das folgende Gedicht:

Heimatlos

Mit meinem Seidenkoffer
reise ich in die Welt
ein Land nüchtern
eines toll
die Wahl fällt mit schwer

Ich bleibe heimatlos

Im Juli 1972 reist sie zur Kur nach Bad Nauheim; bei einem Spaziergang im Kurpark fällt sie so unglücklich, dass sie sich den linken Schenkelhalsknochen bricht; die Folgen sind mehrmonatige Aufenthalte in verschiedenen Krankenhäusern und ein Umzug mit ihren Habseligkeiten in acht Koffern auf die Pflegestation des Nelly-Sachs-Hauses, dem Elternheim der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf.  Damit beendet sie – unfreiwillig – ihr Reisen, das ruhelose, getriebene Wandern auf Heimatsuche, das ständige Pendeln nach Wien, München, Nizza, nach Italien, nach New York…

Leben und Schreiben im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf

Von ihrem Zimmer Nr. 419 im IV. Stock schaut sie auf die Pappelreihe, die den Nordpark (Ironie der Geschichte: der Nordpark ist zum größten Teil 1937 im Zuge der Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ angelegt worden) begrenzt:

Wer I

Wer wird sich meiner erinnern
wenn ich gehe

nicht die Spatzen
die ich füttere
nicht die Pappeln
vor meinem Fenster
der Nordpark nicht
mein grüner Nachbar

Meine Freunde werden
ein Stündchen traurig sein
und mich vergessen

Ich werde ruhen
im Leib der Erde
sie wird mich verwandeln
und vergessen

In das Heimleben mag sie sich nicht einfügen: sie ist und bleibt Außenseiterin, sie geht nicht zur Sabbatfeier, begeht die Feiertage nicht, besucht nicht die Synagoge; sie nimmt nicht an den gemeinsamen Mahlzeiten teil, sondern lässt sich ihre Diätkost aufs Zimmer bringen. Ihr Leben ist auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, das der Bewohner auf Vergangenheit.

Und besonders ihr kreatives Schaffen grenzt sie ab; das Interesse der Medien, der Leser auch an ihrer Person und ihrer zunehmenden Erfolge wecken Neidgefühle bei den oft vereinsamten Bewohnern. Rose Ausländer ist fremd und bleibt fremd; ihr Zimmer wird ihr zur Schutz–und Trutzburg.

Tröstung I

Ich tröste mich
mit dem geträumten Meer
mit Drosselliedern
aus dem vergangenen Wald
mit guten Worten verlorener Freunde

mit der Erinnerung
an die Zukunft
aus Liebe und Tod.

1975 beginnt ihre Zusammenarbeit mit dem Verleger Helmut Braun, die sich bis zu Rose Ausländers Tod zu einer tiefen Freundschaft entwickelt

Durch die Veröffentlichung der „Gesammelten Gedichte“ 1976 wird Rose Ausländer schlagartig bei einem breiteren Publikum bekannt. Eine Flut von Besprechungen, Berichten, Auszeichnungen, Würdigungen in allen namhaften deutschen Zeitungen setzt ein, der Rundfunk und auch das Fernsehen ziehen nach.

Das Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf zeigt die erste Ausstellung zu Leben und Werk von Rose Ausländer. In Freiburg wird ihr der Ida – Dehmel – Literaturpreis verliehen, den Hilde Domin für sie entgegennimmt. Im Juni 1977 wird ihr der Andreas-Gryphius-Preis in Düsseldorf verliehen. Es ist Rose Ausländers letzte Lesung, das Publikum dankt ihr mit stehenden Ovationen und es ist das letzte Mal, dass sie das Zimmer im Nelly-Sachs-Haus verlässt.

Das alltägliche Leben zu bewältigen, fällt ihr immer schwerer; den Kontakt zu den Freunden aufrecht zu erhalten, macht immer mehr Mühe. Zwar ist ihr das wachsende Interesse an ihrer Person und ihrem Werk sehr willkommen, doch dadurch wird die Zeit zum Schreiben und Überarbeiten ihrer Gedichte beschnitten.

In dieser Situation trifft Rose Ausländer wieder eine für sie typische radikale Entscheidung und erklärt sich für bettlägerig. Bis zu ihrem Tode verlässt sie das Bett nicht mehr; aber nicht ihre Krankheiten sind der eigentliche Grund für dieses Bettlägerigkeit, sondern sie will sich ausnahmslos ihrem dichterischen Schaffen widmen, will Zeit gewinnen zum Schreiben. Besuche, das Briefeschreiben, Telefongespräche, Radio hören, Fernsehen werden auf ein Minimum reduziert.

Im Mai 1984 verleiht ihr der damalige Bundespräsident Dr. Carl Carstens das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, überreicht durch den Ministerpräsidenten des Landes NRW Johannes Rau.

In ihrer Dankesrede heißt es u.a.:

„Zwischen 17 und 83 liegen die Meilensteine meines Dichterlebens: Gedichte, Bücher, Leser, Kritiken, Preise.
Und was das Leben, die Jahre, die Gedichte, die Bücher, die Kritiker nicht geschafft haben, das schaffen die Literaturpreise: Sie machen alt!… Rose Ausländer ist die große a l t e Dame der deutschen Lyrik, habe ich erfahren. Nun ich habe viel erlebt, manches ertragen, ich werde auch dies überstehen… Ihre Auszeichnung hat mich spät erreicht, nicht zu spät – ich danke Ihnen!“

Rose Ausländer erreicht die totale Isolation; nun lässt sie auch die Menschen nicht mehr zu sich, weist alle Besucher ab, verweigert auch den engsten Freunden den Zutritt; deren Unverständnis nimmt sie zur Kenntnis, lässt sich aber nicht umstimmen. Zugang haben nur  noch das Pflegepersonal, ihr Bruder Max, der einmal jährlich aus New York kommt und immer freitags ab 18.45 Uhr ihr Verleger Helmut Braun.

Das Bett ist für sie zu einer selbst gewählten „Matratzengruft“ geworden, in der sie sich aufrecht hält, ihre letzte Kraft auf ihr Werk konzentriert.

Ich denke

Ich denke
an die Eltern, die mich verwöhnten
an Spielzeug und Kindergespielen

an Lust und Qual meiner
ersten Liebe

an Venedig, Luzern, die
Riviera und Israel

an Hölderlin, Trakl
Kafka und Celan

an das Getto an Todestransporte
Hunger und Angst
an den Unfall
das ewige Bett an Freunde die
mich verließen und Menschen
die mir beistehn

Ende 1986 beendet Rose Ausländer ihr Schreiben mit der Erklärung: „Es ist genug – es ist mir kein Bedürfnis mehr.“ Sie hat bewusst gelebt, nun wartet sie gelassen auf das Ende.

Sie stirbt in den frühen Morgenstunden des 3. Januar 1988 im Nelly-Sachs-Haus und wird auf dem Jüdischen Friedhof innerhalb des Nordfriedhofes beerdigt. Max Scherzer, ihr Bruder, spricht für sie das Kaddisch, das jüdische Totengebet.

Selbstporträt

Jüdische Zigeunerin
deutschsprachig
unter schwarzgelber Fahne
erzogen

Grenzen schoben mich
zu Latinern Slaven
Amerikaner Germanen

Europa
in deinen Schoß
träume ich
meine nächste Geburt.

Gedichte und Bücher von Rose Ausländer sind über die S. Fischer Verlage erhältlich.

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