Ziviler Ungehorsam mit bleibender Erinnerung

Joachim Noack während seines Vortrags beim Stammtisch des Bergischen Geschichtsvereins Erkrath. Foto: RG

Am 9. November jährte sich der Mauerfall zum 30. Mal. Einige Erkrather verbinden mit diesem Ereignis eine ganz besonders intensive Erinnerung.

Joachim Noack war einer dieser Menschen. 1989 war er Geschichtslehrer des Gymnasiums am Neandertal. Beim letzten Stammtisch des Bergischen Geschichtsvereins Erkrath berichtete er von dem Schulereignis, mit dem das Gymnasium am Neandertal damals die Schlagzeilen der Lokalpresse belegte.

Noack hatte eine kleine Präsentation vorbereitet, die viele Bilder der bleibenden Erinnerung enthielt. Alles begann am Morgen nach der Nachricht, dass die Mauer offen sei. Niemand konnte sich so recht auf den Unterricht konzentrieren. “Ich sitze in der Klasse – erwartungsvolle Kursschüler vor mir. Aber dann geht normaler Unterricht nicht. Ich frage die Schüler, wie es ihnen geht und merke, sie sind genauso bewegt wie ich”, schrieb Deutschlehrerin Rose Slotty in einem Jubiläumsheft zum 25-jährigen Abiturjubiläum.

Joachim Noack ging es an diesem Tag im Unterricht ganz genauso, keiner seiner Schüler hatte Lust trockenen Unterrichtsstoff zu pauken. “Wir hocken hier und in Berlin wird Geschichte gemacht”, bringt es ein Schüler in diesem Geschichtsunterricht auf den Punkt. Auch Noack hatte seine Erinnerungen in der Jubiläumsschrift festgehalten. Auf die locker in den Raum geworfene Frage, warum man nicht einfach hinfahre, antwortete er damals zögerlich: “Wie soll das denn gehen?”. Seine Kollegin Rose Slotty war etwas forscher und meinte: “Warum eigentlich nicht?”.

Und so kam es, dass sich Schüler und Lehrer an Schulleiter Horst Busch wandten. Sie wollten Geschichte live erleben. “Es war mir als Schulleiter bewusst, dass ich diese Genehmigung ohne die Schulbehörden nicht erteilen durfte”, erinnerte er sich in der Jubiläumsschrift. Aber nach einem Moment des Überlegens entschloss er sich dann zu einer Durchsage: “Alle Schülerinnen und Schüler, die zum Mauerfall fahren wollen und eine elterliche Genehmigung einholen sowie einen Reisepass haben, sind vom Unterricht befreit und dürfen heute noch vom Gerberplatz in Erkrath um 14 Uhr nach Berlin fahren.”

“Für diese spontane Entscheidung Schülern und Lehrern das Erleben von Geschichte live zu ermöglichen, erhielt Horst Busch zuerst eine Rüge der Schulbehörde, die aber schließlich im Gespräch die Fahrt als sinnvoll und einmalig einstufte und die Genehmigung nachträglich erteilte”, erzählt Joachim Noack den Stammtischteilnehmern, die seinem Vortrag aufmerksam lauschten.

Es gelang damals im Rahmen dieses spontanen Entschlusses tatsächlich bis 14 Uhr Busse für den Transport von 100 Schülern und die vier begleitenden Lehrer Slotty, Maass, Grober und eben Horst Noack zu chartern. Damit begann eine Fahrt, die weder Schüler noch teilnehmende Lehrer je vergessen werden.

Die damalige Schülerin Bianca Pohlmann schrieb in ihrem Erlebnisbericht: “Als wir abend in Berlin ankamen, gingen wir sofort zur Mauer. Irgendwer hatte einen kleinen Hammer dabei, der die Runde machte. Aber auch mit Steinen und Fingern kratzten wir uns kleine Stückchen aus der schon angeschlagenen Mauer und kletterten schließlich auf diese hinauf.”

Von der Fahrt gibt es zahlreiche Bilder, auf denen Lehrer Horst Noack auf der Mauer sitzt, auf denen auf der Suche nach dem besten Aussichtspunkt auch Baumwipfel erklommen wurden und auf denen die Menschenmassen aus Ost und West oder ein Spalt in der Berliner Mauer zu sehen ist.

Horst Noack ist bis heute bei der Erinnerung so bewegt, dass er selbst an diesem Abend einen Teilnehmer bittet, einen kleinen Teil vorzutragen, weil ihm bei der Erinnerung die Stimme versagt. Es ging um seine ganz persönliche Erinnerung: “Diese Öffnung war für mich als “Flüchtlingskind” von 1961 das aufwühlendste Erlebnis, das ich in meinem bisherigen Leben erfahren hatte. Als ich zusammen mit tausenden anderen Menschen die Mauer bestieg und mit einem Hammer auf sie einschlug, komprimierten sich genau 28 Jahre und 3 Monate zu einer Momentaufnahme. Ich lag wildfremden Menschen in den Armen und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Hier mischten sich Tränen der Freude und der Wut: Wieso mussten wir derart lange auf ein letztlich so banales Loch in einer Mauer warten, die meine Familie und das gesamte deutsche Volk zerrissen hatte?”

Die anschließenden Gespräche am Stammtisch drehten sich natürlich auch um dieses Ereignis vor 30 Jahren. Da wurden eigene Erinnerungen zum Mauerfall und zum Ost-West-Erleben kundgetan. An diesem Abend waren sich noch einmal alle bewusst, welches ganz besondere Ereignis der Mauerfall in unserer Erinnerung ist.

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