Buchtipp: Ein Winter in Paris

von Stephan Frank

Foto: Ingrid / Pixabay

Stephan Frank hat für unsere Leser Jean-Philippe Blondels Roman ‘Ein Winter in Paris’ rezensiert.

Jean-Philippe Blondel, Autor mehrerer seit Anfang des Jahrtausends erschienener kurzer Romane, wurde im Jahr 1964 in der Stadt Troyes in der Champagne geboren, wo er heute noch lebt und als Englischlehrer und Schriftsteller arbeitet. Sein hier zu besprechender Roman „Ein Winter in Paris“ erschien in Frankreich im Jahr 2015 und in deutscher Übersetzung als Taschenbuch Ende 2019. Nach Auskunft des Autors ist dieses Werk stark autobiographisch geprägt.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen: Der Autor lässt seine Hauptfigur, Victor, die Geschehnisse des Jahres 1984 aus der Sicht des Jahres 2014 erzählen. Victor hat seine eigentliche Schulausbildung im Jahr 1983 abgeschlossen und bereitet sich nun an einem renommierten Lycée in Paris zwei Jahre lang auf das Studium an einer Eliteuniversität vor. Diese Zeit ist für ihn durch den enormen Leistungsdruck in allen Unterrichtsfächern geprägt, der Freizeit eigentlich nicht mehr zulässt. Victor, als Sohn einfacher Eltern aus der Provinz, findet keinerlei sozialen Anschluss an seine Mitschüler, die, aus der Oberschicht stammend und der Hauptstadt Paris verbunden, ihn einfach nicht wahrnehmen. Einzig und allein zu Mathieu, eine Klassenstufe unter ihm und ebenfalls ein Außenseiter aus der Provinz, kann Victor einen oberflächlichen Kontakt herstellen. Noch bevor diese Beziehung intensiver werden kann, begeht Mathieu Suizid wegen der an der Schule herrschenden Verhältnisse: Isolation, Leistungsdruck und selbstherrliche, arrogante Lehrer haben ihn zu dieser Tat veranlasst. Victor wird nach diesem Suizid erstmals von seinen Mitschülern und den Lehrern als Mensch wahrgenommen, war er doch der Einzige, der Kontakt zu Mathieu hatte. Während die Schule recht schnell zur Tagesordnung wieder übergeht, die eigenen Werte und Ziele über das menschliche Schicksal stellt, sind seine Mitschüler noch eine Zeit lang an Victor interessiert. Dazu gesellen sich Mathieus Eltern. Während die Mutter den Tod ihres Sohnes letztlich als Realität akzeptiert, wirft es Mathieus Vater aus der Bahn. Er verlässt seine Frau und gibt die Arbeit auf. Ein Neuanfang in einer anderen Stadt will nicht recht klappen; stattdessen sieht er in Victor eine Art „Ersatzsohn“, mit dem er kommunizieren  und  nachholen kann, was er mit seinem eigenen Sohn verpasst hat. Victor geht aus allem nach einer Zeit der heftigen Krise und der Verunsicherung gestärkt hervor. Ganz bewusst wendet er sich von Mathieus Vater ab, verlässt die Schule ohne Abschluss, um letztendlich eine eigene Familie zu gründen und Lehrer an einer Schule in seiner Heimatstadt sowie erfolgreicher Romanautor zu werden. Am Ende des Werkes schließt sich der Kreis auf der zweiten Zeitebene: Victor ist bereit, wieder in Kontakt zu Mathieus Vater zu treten, der kurz zuvor brieflichen Kontakt mit ihm aufgenommen hat.

Warum wird dieses Buch empfohlen? Einerseits ist die Erzählstruktur interessant: Die Erlebnisse des Schülers Victor des Jahres 1984 werden im Rahmen der Gegenwart von 2014 erzählt, dem Leser erschließt sich aber erst am Ende des Romans der Zusammenhang der beiden Zeitebenen.

Darüber hinaus stellt der Roman einen Lebensweg dar, ohne moralisierend oder belehrend zu sein. Vielmehr haben wir es mit einer sehr differenzierten Darstellung der handelnden Personen zu tun, die teilweise auch widersprüchlich agieren und somit das Menschliche des Ganzen betonen. Ebenso differenziert sind die Probleme, die im Text dargestellt werden. Da ist einerseits die jugendliche Hauptperson, die einen neuen Lebensabschnitt beginnt und sich nicht nur räumlich vom Elternhaus trennt, sich ihm sogar entfremdet und letztlich an der Ignoranz und der sozialen Kälte der Hauptstadt scheitert: Nicht umsonst lautet der Buchtitel „Ein Winter in Paris“. Ursache für sein Scheitern ist Victors Herkunft aus der Provinz und einem einfachen Elternhaus. Die Hauptstadt, wie Victor sie kennenlernt, wird beherrscht von vermeintlichen Eliten, die unter sich bleiben wollen und die nie Zweifel am eigenen Selbstverständnis und Handeln haben, die also auch keine Kritik an noch so unhaltbaren Verhältnissen, wie sie z. B. an der Schule herrschen, ausüben. Man könnte in diesem Zusammenhang an die aktuellen Proteste der „Gelben Westen“ in Frankreich denken, die sich ja auch als Konflikt zwischen Eliten und der übrigen Bevölkerung darstellen. Paris erscheint als Moloch, während die Provinz als möglicher Rückzugsort für alle, die sich einer derartigen Hauptstadt nicht (weiter) aussetzen wollen, erscheint. Dies ist deshalb auch der Ort, an dem sich Victor auf der ersten Zeitebene des Romans erfolgreich behauptet, ohne sich angepasst zu haben.

Blondel schafft es in seinem kurzen Roman, eine Vielzahl von Problemen politischer, sozialer wie zwischenmenschlicher Art anzugehen, und dies in einer leichten und verständlichen, aber äußerst sensiblen Sprache, so dass der Leser dieses Werk eigentlich nicht aus der Hand legen mag, bevor er nicht die letzte Seite gelesen hat oder, wie Blondel selbst schreibt: „Romane haben die Eigenschaft, den Leser dazu zu verführen, auf den Schlaf zu verzichten.“

(Jean-Philippe Blondel: Ein Winter in Paris. München 2019. ISBN 9783442489848)

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