
Stephan Frank hat für unsere Leserinnen und Leser den Roman „Ein Mann seiner Zeit“ von Roswitha Quadflieg rezensiert.
Am 26.02.2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht ein ebenso unerwartetes wie sensationelles Urteil, dessen Leitsätze lauten: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. … Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Kurz gesagt: Der assistierte Suizid ist erlaubt. Der damalige Bundesgesundheitsminister reagierte auf dieses Urteil damit, dass er dem Bundesamt für Arzneimittel untersagte, den für den Suizid notwendigen Wirkstoff, Natrium-Pentobarbital, herauszugeben, obwohl das BVG-Urteil das eigentlich ermöglichte. Stattdessen wurden schwerstkranke Suizidwillige auf die Palliativmedizin verwiesen, die mindestens zu diesem Zeitpunkt noch gewaltige Wünsche offen ließ. Soweit in Kürze der historische Hintergrund für den vorliegenden Roman.
Die Hauptperson des Romans, Paul Gärtner, knapp 75 Jahre alt, erleben wir über den Zeitraum vom 23.08.2020 bis Ende August 2021, also während der Corona-Pandemie. Wir erfahren, dass er sich einen Kassettenrekorder gekauft hat, um sein bisheriges Leben zu dokumentieren. Seine derzeitige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass er – nach zwei überstandenen Krebstherapien – an den Rollstuhl gefesselt ist und täglich vom Pflegedienst, dem Physiotherapeuten und dem Essenslieferanten besucht wird bzw. auf diese Personen angewiesen ist. In dieser Situation verfolgt er nur noch das Ziel, als freier Mann den selbstbestimmten Tod unter Assistenz zu finden unter Berufung auf das o. g. BVG-Urteil. Die Einstellung der Hauptperson lautet: „Mediziner, Juristen, Politiker, vor allem aber Theologen müssen endlich lernen, auch Menschen wie mich, Nichtmediziner und Atheisten, ganz normale Bürger, als autonom zu respektieren und ihren Willen zu achten.“ (S. 13) Ein Anwalt ist für ihn in dieser Sache tätig. Das Buch endet in einer äußerst überraschenden Wendung, die hier natürlich nicht vorweggenommen werden soll.
Die Lektüre des vorliegenden Buches empfiehlt sich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen befasst es sich mit einem möglicherweise für alle wichtigem Thema, nämlich dem Recht auf den selbstbestimmten Tod, und das in einer sehr provokanten, pointierten und kritischen Weise. Zum anderen wird durch die im Text dokumentierten Tonaufnahmen der Hauptperson ein ebenso provokanter und pointierter Abriss der Bundesrepublikanischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg geboten, und zwar aus der Sicht eines Vertreters der 68er-Generation. Und das alles in einer sehr ansprechenden literarischen Form: Einerseits gibt es als direktes Zitat die Tonbandaufnahmen der Hauptperson, in der die Geschichte der BRD und das BVG-Urteil kritisch behandelt werden. Andererseits haben wir es mit einer tendenziell auktorialen Erzählsituation zu tun, in der also der Erzähler die handelnde Hauptperson innerlich wie auch aus neutraler Sicht kennt. Dadurch wird eine gewisse Distanz zur Hauptperson geschaffen. Und das alles wird in einer klaren, ebenso frischen wie frechen, gut lesbaren Sprache dargestellt. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Ein äußerst lesenswertes, ein durchaus faszinierendes Werk!
Das Thema des assistierten Suizids ist allerdings nicht neu. So wurde es z. B. in dem spanischen, im Jahr 2004 mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichneten Werk „Das Meer in mir“ behandelt. Auch hier liegt, wie in dem Roman von Roswitha Quadflieg, ein tatsächlicher Fall dem Drehbuch zugrunde, allerdings mit einem anderen Ausgang. Auch dieser Film, der das Thema äußerst feinfühlig angeht, ist eine Empfehlung wert.

Roswitha Quadflieg: Ein Mann seiner Zeit.
Verlag Faber & Faber, Leipzig 2023
ISBN 978-3-86730-240-1
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