Authentischer Zeitzeugenbericht

Dr. Yvonne Koch - Foto: RG

Bevor die Entscheidung zu Schulschließungen fiel, hatten Schüler des KHG Besuch einer Zeitzeugin, den sie wohl so schnell nicht mehr vergessen werden.

Die Aula des Konrad-Heresbach-Gymnasiums in Mettmann war gut gefüllt. Anwesend war der komplette neunte Jahrgang, aber auch viele Oberstufenschüler und einige Ehemalige, die vorab per Email angefragt hatten, ob sie Dr. Yvonne Koch noch einmal hören dürften. Dennoch war es schon vor Beginn so leise, dass man ein Blatt hätte fallen hören können. Vorn auf der Bühne warte Yvonne Koch auf den Beginn. Im Publikum saß ihr Mann, der sie zu allen Veranstaltungen begleitet, sie ermutigt und da ist, wenn plötzlich eine kleine Begebenheit eine traumatische Erinnerung auslöst, die zum Nervenzusammenbruch führen kann. Auch das erzählte sie den Schülern später. Wie sie während einer Ausstellung, an der sie mit mehreren Medizinerkollegen teilnahm vor dem Bild eines Künstlers, der schwarze Balken auf weißem Untergrund gemalt hatte, plötzlich wieder die gestapelten Leichen in Bergen-Belsen vor Augen hatte und in einem Weinkrampf zusammen brach. Aber bevor sie den Schülern ihre persönliche Geschichte vortrug, dankte ihr Dr. Ulrike Möllney dafür, dass sie bereits zum zehnten Mal ins KHG gekommen war, um Schülern ihre Geschichte zu erzählen.

Wie kommt eine Zehnjährige aus der Slowakei in ein deutsches Konzentrationslager?

Mit dieser Frage begann Yvonne Koch ihre Erzählung und wies darauf hin, dass alles was sie erzählt eben die Erinnerungen eines zehnjährigen Kindes seien. “Mein Vater war Atheist, der aus einer jüdischen Familie stammte und meine Mutter war katholisch”, begann sie zu erzählen. Ihr Vater war Arzt mit eigener Praxis, bis die Deutschen 1939 die Tschechoslowakei besetzten und ihre Rassengesetze durchsetzten. Er verlor seine Praxis und durfte nur noch unter Aufsicht als Arzt tätig sein. Auch ihre Mutter war berufstätig und Yvonne besuchte eine Klosterschule.

Im Sommer 1944 behandelte ihr Vater zwei Nazigegner. Als die SS sich für den Verbleib der Widerständler interessierte, floh er in die Berge. Schließlich verriet jemand den SS-Leuten, dass er zwar nicht wüsste, wo sich Yvonnes Vater aufhielte, aber seine Tochter besuche die Schule am Kloster. In diesem Moment begann für Yvonne die Zeit, die sie wohl nie vergessen wird, die Zeit, über die sie so viele Jahre überhaupt nicht sprach, bis ihr Mann sie dazu ermutigte. Sie war über 70 Jahre alt, als sie erstmals vor Schülern sprach. “Ich bin keine gute Rednerin und ich bin immer sehr nervös”, gesteht sie den Schülern, dass diese Vorträge auch nach mehr als einem Jahrzehnt für sie immer noch keine Routine sind.

In jenem Sommer 1944 kamen SS-Leute in die Schule. Die Oberin holte Yvonne aus der Klasse und flüsterte ihr unterwegs zu “Wenn Du verrätst, wo Dein Vater ist, dann kannst Du hier bleiben”. Aber Yvonne wusste nicht, wo ihr Vater war, hatte keine Ahnung, von dem was passiert war und so nahmen die SS-Leute sie schließlich mit und steckten sie in ein Sammellager. Innerhalb von 24 Stunden wurde sie nach Bergen-Belsen deportiert. “Ich hoffte die ganze Zeit, meine Mutter würde kommen und mich holen”, erinnerte sie sich. Aber ihre Mutter kam nicht rechtzeitig. Sie hatte in der Klosterschule von der Oberin erfahren, dass sie das Kind an die SS aushändigen musste, weil man sonst das Kloster angezündet hatte und machte sich auf den Weg ins Sammellager, aber dort konnte niemand mehr ermitteln, wohin man Yvonne deportiert hatte.

Bergen-Belsen

Der Transport nach Bergen-Belsen erfolgte in Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn. “Mit 60 Menschen in einem Waggon eingepfercht, wurden wir geschubst. Es gab eine Bank mit einem Eimer und stank fürchterlich. Es gab kein Essen, die Frauen haben geschrien und viele sind umgefallen. Einige Menschen sind auf der Fahrt gestorben”, berichtete Dr. Yvonne Koch den Schülern, die ihr aufmerksam und betroffen lauschten. Eigentlich sollte der Transport nach Auschwitz gehen, aber dann kamen alle nach Bergen-Belsen. “Als der Zug hielt, war es dunkel. Hunde bellten und dann holte uns die SS aus den Waggons. Ich wusste nicht, wo ich war.”

Die Gefangenen mussten auf Lastwagen steigen, der später vor einer Baracke hielt. “Wir mussten uns alle nackt ausziehen und sollten in die Dusche gehen. Die Frauen haben alle geschrien und dann gerufen ‘Kein Gas, nur Wasser. Wir bleiben am Leben’. In Bergen-Belsen gab es keine Gaskammern. Dort sind die Menschen verhungert”, erklärte Yvonne Koch den Schülern. “Ich kann das alles nicht vergessen. Auch jetzt mit 86 Jahren nicht.”

Als die Gefangenen aus den Waschräumen kamen, hätten sie sich in einer Reihe aufstellen müssen, berichtet sie. Die SS habe die Frauen selektiert nach ‘jung und gesund’ oder ‘alt und schwach’. Yvonne habe man als Kind zu den Alten und Schwachen sortiert. “Bergen-Belsen war ein Sterbe- und Hungerlager”, sagte sie und erzählte dann, wie ein Tag im Lager verlief. Morgens um fünf mussten alle zum Zählappell antreten. Drei Stunden mussten sie ruhig stehen. Die SS hetzte die Hunde auf die, die sich bewegten. “Und wenn die Hunde sie nicht getötet hatten, wurden sie erschossen”, schilderte Yvonne Koch die schrecklichen Erlebnisse. Eines morgens konnte auch Yvonne vor lauter Schwäche nicht mehr ruhig stehen. Die SS gab dem Hund den Befehl “Fass”, aber wie durch ein Wunder folgte der Hund dem Befehl nicht. Yvonne überlebte. Immer noch hoffte sie, ihre Eltern würden sie abholen, aber auf den Sommer folgte der Herbst und schließlich kam der Winter, der zum Jahreswechsel 1944/45 ein sehr strenger Winter war.

“Ich habe keine Solidarität erlebt”

Jeden Tag gab es ein Stück Brot und eine Rübensuppe. Und jeden Tag nahmen andere Gefangene Yvonne ihr Brot ab, die sich mit der Suppe begnügen musste. “Meine Gefühle haben sich in dieser Zeit auf das Primitivste reduziert”, erinnere sich Yvonne Koch. In Bergen-Belsen ging es für die Gefangenen nur darum zu überleben. Nach dem Appell und dem Essen strich Yvonne durchs Lager und eines Tages entdeckte sie den Müll hinter einer Essenbaracke. Sie fischte sich Kartoffelschalen heraus, versteckte sie unter dem Mantel. In ihrer Baracke wärmte sie diese am Ofen und aß sie hungrig auf. Neben dem kleinen Eisenofen gab es in den Baracken nur Holzpritschen, auf deren Kante sich Yvonne so wund gelegen hatte, dass man die Wunde noch heute erkennt. Als Zudecken gab es Pferdedecken.

Als Yvonne eines Abends wieder einmal hungrig zum Müll hinter der Essensbaracke schlich, stand dort eine kräftige junge Frau. Yvonne erschrak, aber dann hielt ihr die Frau ein paar Handschuhe hin. “Die waren aus einer aufgeriffelten Pferdedecke gestrickt. Für mich hatte das eine ganz besondere Bedeutung. Es war das erste Mal, seit man mich mitgenommen hatte, dass ich menschliche Wärme erfuhr.” Von dieser Erfahrung angezogen, eilte Yvonne auch am kommenden Tag wieder dort hin, aber die Frau war nicht dort und sie sah sie nie wieder. Ob sie beobachtet wurden und man die Frau getötet oder verlegt hatte, sollte Yvonne nie erfahren.

Überfülltes Lager und viele Tote

Immer mehr Menschen trafen in Bergen-Belsen ein. Appelle gab es morgens nicht mehr. Die Menschen verhungerten, starben an Schwäche oder Krankheiten, die sich ausbreiteten. Überall lagen Leichen. “Niemand kümmerte sich darum. Ich lief durchs Lager und schaute unter den Leichen nach, ob ich meine Mutter finde”, erzählte Yvonne Koch von den Schrecken dieser Zeit. Sie wäre damals sogar glücklich gewesen, wenn sie ihre Mutter wenigstens im Tod wiedergefunden hätte. Aber sie fand sie nicht. Als Toilette diente eine Grube mit zwei Balken darüber. Darin sah Yvonne eines Tages viel Blut und einen Embryo.

Die Befreiung

Im Lager breitete sich Typhus aus. Auch Yvonne erkrankte. Als die Engländer am 15. April 1945 Bergen-Belsen befreiten, fand ein Soldat sie stark geschwächt und brachte sie in ein englisches Lazarett. “Ich wachte in einem weißen Bett auf. Auf der Bettdecke lagen die gesäuberten und desinfizierten Handschuhe. Ich hatte sie wohl so fest umklammert, dass man dachte, sie haben eine besondere Bedeutung für mich.” Die übrige Kleidung hatte man wegen der Infektionsgefahr verbrannt.

Ihren Retter sah Yvonne nicht wieder, aber ein Arzt im Lazarett sprach ihre Sprache und fragte: “Wo sind Deine Eltern?”. Da Yvonne das nicht wusste, versprach er sie mitzunehmen, wenn sie gesund sei. Er war selbst Vater von zwei Kindern. Aber dann sagte man ihr “Wir denken, dass Deine Eltern noch leben.” Yvonnes Mutter hatte sie über das internationale Rote Kreuz suchen lassen und schließlich die Nachricht erhalten, dass Yvonne in einem Lazarett in Celle liegt.

Wiedersehen

Als Yvonne wieder bei Kräften war, brachte man sie in einem Minibus zu ihren Eltern. “Meine Mutter umarmte mich, aber meine Gefühle waren immer noch so aufs Primitivste reduziert, dass ich nur ein großes Brot haben wollte”, schilderte Yvonne das Wiedersehen. “Ich verhielt mich nicht mehr wie ein normales Kind.”

Die Zeit im Lager hatte Spuren hinterlassen. In der Schule konnte Yvonne nicht mit den anderen mithalten. Ihr Vater sagte, dass sei nicht schlimm und meldete sie im Schwimmclub an. “Erst dort habe ich gelernt, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Es war die Stoppuhr, mit der ich lernte diszipliniert zu werden”, erzählte Yvonne den Schülern. Sie brachte es bis zur Schwimmmeisterin, schaffte schließlich ihr Abi und studierte Medizin.

Der Mann an Yvonnes Seite

Auf einer Fachtagung lernte sie schließlich ihren späteren Mann kennen. Mit ihrer Entscheidung ihn zu heiraten brüskierte sie Freunde, Verwandte und die eigenen Eltern, die sich zeitweise von ihr abwandten, denn Herbert ist Deutscher. “Ich habe keinen Deutschen geheiratet, ich habe einen Menschen geheiratet”, hätte sie nicht besser ausdrücken können, dass sie keine Vorurteile hat. Es war auch ihr Mann, der sie ermutigte, als sie mit über 70 begann ihre Erinnerungen an Bergen-Belsen aufzuschreiben. Sie veröffentlichte einen Aufsatz mit dem Titel “Was Anne Frank nicht mehr sagen konnte”, den die Süddeutsche besprach. Eine Lehrerin wurde darauf aufmerksam und fragte an, ob sie nicht Schülern von ihren Erlebnissen erzählen wolle. Seit dieser Zeit spricht sie als Zeitzeugin regelmäßig vor Schülergruppen auch ganz offen darüber, dass bis heute Kleinigkeiten traumatische Erinnerungen wachrufen können und das ihr Mann sie deshalb zu allen Vorträgen begleitet.

Dr. Yvonne Koch und ihr Mann Herbert. Foto: RG

Auch den Schülern im Konrad-Heresbach-Gymnasium in Mettmann beantwortete Dr. Yvonne Koch im Anschluss an den Vortrag noch Fragen. “Konnten Sie den Menschen vergeben?”, war eine davon. Die Antwort kommt ohne zögern “Selbstverständlich.”

So außergewöhnlich diese Antwort war, so außergewöhnlich ist sicher auch diese Frau, die mit 86 Jahren eine vollbesetzte Aula ganz still werden lässt und die nicht versäumt den Schülern immer wieder zu sagen, dass sie es in der Hand hätten, dass die Politik sich nicht noch einmal von der Demokratie entfernt. “Wer die Demokratie verschläft, wacht in der Diktatur auf”, macht sie klar, dass die Schüler sich im eigenen Leben für die Demokratie engagieren sollten.

Als Dank für ihren Vortrag überreichen Schüler Dr. Yvonne Koch einen großen Blumenstrauß. Foto: RG

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